Dietrich hat geschrieben:Der entscheidende Punkt liegt in einer Entmachtung der Kirche, ohne die wir vermutlich ähnliche Verhältnisse wie in den meisten islamischen Staaten hä#tten. Die Modernisierung der Gesellschaft wurde in Europa ganz wesentlich durch fähige Staatsmänner unterstützt, man denke nur an von Hardenberg, den Freiherr vom Stein und andere Reformer nur in Preußen. Die Entwicklung eines zollfreien Binnenmarktes wurde ganz wesentlich von den deutschen Ländern getragen, sodass es zum Deutschen Zollverein kam. Und auch die Industrialisierung wurde z.B. in England vom Parlament gestützt und mit entsprechenden Gesetzen unterfüttert.
Die Frage ist nur: Von wem ging das alles aus? Als Hardenberg etc. wirkten, war die Kirche - protestantisch oder katholisch - noch lange nicht entmachtet, das schaffte erst Bismarck mit seiner Bildungsreform und Kanzelparagraph etc.
Der Binnenmarkt wurde auf Veranlassung der Industriellen geschaffen. Ausnahme: Der Merkantilismus, da war tatsächlich zuerst der Herrscher der Zollschrankenbeseitiger, und dann erst profitierten die Fabrikanten.
Auch die englische Industrialisierung ging zuerst von Bürgerlichen aus, die dann die Unterstützung des Parlaments bekamen.
Dietrich hat geschrieben:Eine solche Modernisierung wurde von der islamischen Gesellschaft und den staatlichen Eliten versäumt, sodass wir gegenwärtig dieses Trauerspiel von Potentaten und einer Hoffnungslosigkei der Jugend haben, die keine Perspektiven hat und daher leicht dem Islamismus zum Opfer fällt.
Bei den Folgen sind wir d´accord, aber nicht bei den Voraussetzungen. Es gab Versuche im Osmanischen Reich, Modernisierungen herbeizuführen: Mahmut II. vernichtete die Janitscharen, bekam allerdings auch dadurch keine grundlegende Armeeerneuerung hin. In der Tanzimat-Epoche wurden wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen durchgeführt, die aber scheiterten, weil eben die "bürgerliche Basis" und das Handwerk die Einnahmeverluste des Staates nicht wett machen konnten - sie waren quasi nicht vorhanden, zumindest nicht als wirtschaftliche "Macht".
Abdülhamid II. versuchte erneut Reformen, musste aber nach der Niederlage gegen die Russen und dem Frieden von San Stefano seine Reformen wieder zurück nehmen und war innenpolitisch quasi entmachtet. All diese Reformversuche liefen im 19.Jh. ab. Sie konnten aber nicht erfolgreich sein, weil eben das Bürgertum fehlte.
Die Entwicklung dieses Bürgertums konnte aber nicht von oben geschehen, sondern musste von unten geschehen, so wie in Europa. Hätte der Sultan dies irgendwann mal versucht, hätte er eine jahrtausendealtes System umstürzen müssen - von vorneherein zum Scheitern verurteilt, die Gegenkräfte wären allezeit viel zu stark gewesen. Ein Jahrtausend europäische Entwicklung konnte man nicht auf die Schnelle nachholen. Und als die Europäer ihr "Bürgerexperiment" begannen, war ihnen erstens nicht klar, was da in Gang gekommen war (sowas lässt sich immer erst im Nachhinein feststellen) und zweitens war es keine gezielte Entwicklung, schon gar nicht von Seiten des Staates, der hier nur widerwillig seine Privilegien aufgab.
Dietrich hat geschrieben:Der von mir oben zitierte arabische Autor ist der Meinung, dass die negative Situation in den islamischen Ländern auf den unreformierten Islam zurückzuführen ist. Was im Mittelalter zur Expansion führte, ist heute hinderlich.
Da sind wir wieder beinander.
Dietrich hat geschrieben:Zu all dem kann man nur sagen: Die Lage der Menschen ist nicht gottgewollt, sondern veränderbar. Die abendländischen Staaten und Gesellschaften haben verändert, die islamischen nicht. Das Resulatet lässt sich überll im Morgenland betrachten. Welche Erfolge sich erzielen lassen, wenn ein säkularer Islamismus installiert wird, zeigt die moderne Türkei.
Achja? Bis vor kurzem glich die Türkei noch einer Militärdiktatur - kein Wunder, bei einer vom Militär diktierten Verfassung.
Zwar säkular, aber das Bürgertum ist dort bis heute unterentwickelt.
Und nochmal: Wenn die LAge der Menschen veränderbar ist, dann heißt das implizit, dass die europäische Entwicklung von vorneherein gesteuert gewesen wäre.
War sie aber nicht!!
Beppe