an: Barbarossa, Vergobret, Titus, und alle anderen
Natürlich vergleicht man seinen eigenen Lebensstandard mit den allgemein üblichen durchschnittlichen Standards in dem Land, in dem man lebt, dies ist völlig natürlich. Diese Standards wechseln ständig im Verlaufe der allgemeinen wirtschaftlichen und technischen Weiterentwicklung und die Ansprüche werden in der Regel höher. Was zu meiner Jugendzeit in den fünfziger Jahren noch als Luxus galt, ein großes Stück Fleisch etwa, erscheint heute einigen als ungesunde Ernährung und die damalige Fresswelle ist heute vielen unverständlich.
Ich hatte das große Glück und Privileg, in den letzten 45 Jahren einen großen Teil der Erde näher kennen zu lernen, auch viele Entwicklungsländer und wurde dort häufig mit unglaublichem Elend konfrontiert. Ende der siebziger Jahre war ich längere Zeit in Indien und erlebte häufig bei Reisenden, die aus dem behüteten Europa direkt per Flugzeug zum ersten Mal nach Kalkutta kamen, das, was wir damals den Kalkutta-Schock nannten. Die Ankömmlinge fuhren zunächst endlos lange durch riesige Slumgebiete, in denen Millionen Menschen unter unvorstellbaren Bedingungen lebten (War das überhaupt Leben?). Im Grunde genommen handelte es sich eigentlich um riesige Müllhalden, die wie Kloaken stanken, in denen die Leute zusammengepfercht hausten wie in einem Ameisenhaufen. Immer dann, wenn der Bus halten musste, wurde er umringt von einer Menschentraube, bestehend aus nackten Kindern mit aufgeblasenen Bäuchen, ausgemergelten Gestalten, grässlich verunstalteten Bettlern, die um ein paar Rupien bettelten. Dazu die ungewohnte Hitze und Feuchtigkeit, der Gestank, der Dreck, die verstopften Straßen. Neuankömmlinge waren im Hotel zunächst wie erschlagen, bleich, zitterten am ganzen Körper, eben der Kalkutta-Schock. Die plötzliche, direkte Konfrontation mit einem kaum vorstellbaren Elend überforderte viele zunächst völlig. Man musste sich erst daran gewöhnen.
In der Nähe von meinem Hotel wohnten viele Familien einfach auf dem Bürgersteig. Jede von ihnen hielt einige Quadratmeter besetzt, die Kinder nackt, die Erwachsenen trugen nur Fetzen am Körper, sie schliefen dort, kochten Tee und Essen. Als ich einige Jahre später dort noch einmal hinkam, waren sie immer noch dort. Ich erkannte einige wieder.
Überall in der Stadt sah man grässlich verunstaltete Menschen, die dort bettelten, vor allem am Bahnhof, wo es geradezu apokalyptisch aussah. Bei uns sind solche Leute in Pflegeheimen untergebracht oder werden durch kosmetische Medizin wieder halbwegs vernünftig hergestellt. In Indien passiert das nicht. Der Anblick dieser manchmal alptraumhaft wirkenden Gestalten ist zunächst ein Schock, man muss sich daran erst gewöhnen.
Die Kulis in Kalkutta rannten buchstäblich um ihr Leben, denn sie bekamen nur eine Schüssel Reis am Tag. Verdienten sie einen Tag lang nichts, konnte es kritisch werden.
Die Müllabfuhr hatte die Aufgabe, ganz früh am Morgen in den Hauptstraßen nicht nur den Abfall zu beseitigen, sondern auch die Leichen aufzusammeln, denn jede Nacht starben einige ausgemergelte Gestalten, die dann auf den Bürgersteigen lagen. Die Stadtverwaltung empfand diesen Anblick als unschön und ließ sie diskret entsorgen. Ich weiß nicht, wie es heute in Kalkutta ist, vielleicht ein wenig besser
Diskussionen um den Lebensstandard bei uns erscheinen mir angesichts dieser Erinnerungen manchmal bizarr und unwirklich. Es ist, als ob wir auf zwei verschiedenen Planeten leben würden.
Andererseits, wenn man sich krank fühlt, ist es kein Trost zu wissen, dass es anderen noch schlechter geht. Aber zumindest sollte man eine gewisse Vorstellung davon haben.