Barbarossa hat geschrieben:Erst mal wieder danke für deine Ausführungen. Die folgende Frage möchte ich dir noch beantworten:
3.
So werden Verbote oder Reglementierungen für Waren erteilt, die in dem entsprechen Land zur Tradition gehören - immer unter dem Argument, in einem gemeinsamen Binnenmarkt muß alles einheitlich sein. Muß es das wirklich?
elysian hat geschrieben:Könntest Du das bitte an Beispielen konkret festmachen?
Erst vor wenigen Tagen lief ein Bericht im Fernsehen, in dem u.a. auch ein altes Nationalgetränk in der Tschechei erwähnt wurde, das Rum hieß, aber nun (eigentlich) nicht mehr als Rum verkauft werden darf, weil Rum laut EU-Vorschrift aus Zuckerrohr hergestellt werden muß, der "Rum" der Tschechen aber aus Zuckerrüben gemacht wird. Die Tschechen halten sich nicht an dieses Verbot, sondern umgehen es, indem jeder, der Rum möchte, diesen in eigenen mitgebrachten Flaschen selbst zapft.
Auch andere Verbote, wie das Rauchverbot in Gaststätten oder die Plakettenpflicht in Großstädten sind EU-Vorschriften.
Eine besonders irre Vorschrift - der Krümungsgrad bei Gurken - wurde ja nun inzwischen fallen gelassen, wenn ich richtig informiert bin.
Also wurde nicht das Getränk verboten, sondern lediglich eine Reglementierung hinsichtlich einer bestimmten Getränkeart getroffen, hier Rum, die dazu führt, dass in einem Mitgliedsstaat ein bestimmtes Produkt nunmehr umbenannt werden musste.
Hierbei sind zwei Aspekte zu berücksichtigen:
1. das tschechische Unternehmen darf sein Produkt prinzipiell überall in der EU anbieten; überall in der EU dürfte der durchschnittliche Verbaucher an ein Produkt aus Zuckerrohr denken, wenn er Rum liest. Da keine Regeln für einzelne Produkte erlassen werden (können), bedarf es durchaus einer Regelung aus Gründen des Verbraucherschutzes, dass ein Getränk nicht als Rum angeboten werden darf, wenn es kein Zuckerrohr enthält. Andernfalls könnten die Mitgliedsstaaten und die Verbraucher mit Recht anmerken, die EU verringere den Schutz der Verbraucher, den die Nationalstaaten durchaus gewähren (erinnert Euch doch mal an die Debatte, was als Bier verkauft werden darf). Es ist auch nicht einsichtig, warum eine Regelung nicht getroffen werden sollte, wenn sich auch nur in einem einzigen Land eine Besonderheit findet. Die Alternative wäre dann, dass die Mitgliedsstaaten sich gegenseitig wie in alten Zeiten mit Regeln beharken, die ausländische Produkte vom Markt fernhalten. Wenn wir so anfangen, können wir Europa direkt wieder auflösen.
2. die Idee von Europa ist es doch, dass eine gemeinsame europäische Bürgerschaft bestehen soll aufgrund derer man überall reisen, arbeiten, sich niederlassen darf; dass ein gemeinsamer Markt mitsamt dann natürlich notwendigen gemeinsamen Regelungen und ein Raum der Sicherheit und des Rechts besteht. Da gilt für die europäische Ebene nichts anderes als für die nationale Ebene, die in Deutschland jüngst etwa beim Dönerfleisch hart durchgriff! Übrigens kennen wir doch auch Unterscheidungen wie "Volksmusik" und "volkstümliche Musik". Und wie groß war doch neulich die Empörung über den Käseersatz....
Insofern besteht auch ein Druck der eben beschriebenen Art (Verbraucherschutz) innerhalb Tschechiens.
Umgekehrt kippt die Gemeinschaft zu strikte Regelungen, die nationale Produkte bevorzugen, wenn in der Gemeinschaft mehrheitlich weniger strikte Regeln herrschen (z.B. Likör).
Nebenbei sei bemerkt, dass die Tschechen dass Verbot nicht umgehen, sondern das Produkt ohne den Zusatz "Rum" verkaufen.
Ähnliche Namensgefechte gab es übrigens vor dem EU-Beitritt Tschechiens schon um den Inländer-Rum, der aus Getreide statt aus Zuckerrohr gebrannt wird. Statt "Tuzemsky Rum" steht in Tschechien nun "Tuzemak" in den Regalen.
http://www.radio.cz/de/artikel/86416
Das Rauchverbot in Gaststätten ist ein Ärgernis, dass aber nicht unwesentlich national verursacht wurde. Da durften sich leider einige Radikale austoben, die eine Hochrechnung auf der Grundlage einer nicht repräsentativen Statistik als Fakt darstellten, indem sie 3000 Tote pro Jahr infolge von Passivrauchen behaupteten (ernsthaft! das ist nur eine Hochrechnung!!!).
Bestrebungen in diese Richtung gab es national bereits vor mehr als 10 Jahren und die Radikalsten schrecken vor der Wohnung nicht zurück und missbrauchen die dort lebenden Kinder als trojanisches Pferd für ihren Reglementierungswahn.
M.E. ist das derselbe Menschentyp, der früher in Antisemitismus und Hexenverfolgung gemacht hat....
Hier hätten die Mitgliedsstaaten, wie Spanien beweist und man hier in Deutschland so langsam auch erkennt, den auch m.M.n. gebotenen Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz umsetzen können, ohne das Gaststättengewerbe massiv zu schädigen (Schild an die Tür reicht; wer in dem Lokal dann arbeiten will, geht den Arbeitvertrag bewusst mit dem Risiko einer solchen Belastung ein).
Aber was soll man andererseits groß erwarten, wenn man sich anschaut, was die nationalen Politiker dem Bürger sonst noch so madig machen wollen (Süßigkeiten, Grillen, etc.).
Die Plakettenpflicht geht auf die m.M.n. grundsätzlich richtige Richtlinie über die Luftqualität in den Innenstädten zurück.
Smog ist in vielen Städten ein Problem und wir wissen alle, dass Autos im Stadtverkehr ohnehin am meisten Sprit verbennen.
Die konkrete und wenig gelungene Plakettenpflicht in Deutschland aufgrund der Plakettenverordnung ist allerdings ein Machwerk der nationalen Politiker. Wahrlich kein Ruhmesblatt.
Man sieht aus alledem, und bedenkt bitte, dass die Europapolitiker letztlich nicht anders sind, als die Nationalpoliker, denn aus deren Reihen kommen sie(!), dass es sehr, sehr wichtig ist, sowohl national als auch europäisch wählen zu gehen, um denjenigen die Stimme zu geben, die einem das subjektiv beste politische Angebot machen.
Wenn es nachher eine Mehrheit der bekloppten in Europa gibt, die sich hirnrissige Regelungen wünscht (in Deutschland war die Zustimmung zu den sehr harten NSGen auch recht hoch!), bleibt einer Minderheit dann leider nicht viel übrig, als das so hinzunehmen. Vorläufig.
Zum Krümmungsgrad der Gurken:
Die Verordnung zur Festsetzung von Qualitätsnormen für Gurken von 1988 schreibt Krümmungsgrade für vier Handelsklassen vor. Edle Gurken der Extra-Klasse dürfen danach maximal eine Krümmung von zehn Millimetern je zehn Zentimeter Länge haben. Auch ganz krumme Dinger sind erlaubt - aber nur, wenn die Gurken "keine andere Verformung als ihre Krümmung aufweisen". Dies sei kein Beispiel Brüsseler Regelungswut, betont die EU-Kommission, sondern Wunsch des Handels: So passten mehr Gurken in eine Standardkiste.
http://www.tagesspiegel.de/politik/inte ... 23,1880908