Karlheinz hat geschrieben:3.Oktober 1990. Erste, eher freudlose Wiedervereinigungsfeier in Hamburg
Am 3.Oktober 1990 fand in Hamburg die erste zentrale Wiedervereinigungsfeier statt. Die Begeisterung der Menschen hielt sich hier allerdings in Grenzen. In der Nacht vom zweiten auf den dritten Oktober gab es an der Alster ein großes Feuerwerk, in der Innenstadt hatte die Verwaltung eine Fress- und Saufmeile errichten lassen, viele Buden, wo Bier und Currywurst verkauft wurde. Die meisten Hamburger freuten sich eigentlich hauptsächlich auf den unverhofften, neuen freien Tag und gaben sich kräftig die Kante. Die Hamburger sind ohnehin nicht gerade für ihre Lebensfreude bekannt, sie sind unterkühlt, nüchtern, Ausgelassenheit ist ihnen verhasst. An den jährlichen Hafengeburtstagen ist mehr los und die Menschen sind dann auch in besserer Stimmung als seinerzeit im Oktober 1990.
Die meisten Hamburger hatten von dem sogenannten „Vereinigungsrummel“, wie er von vielen genannt wurde, ohnehin schon lange die Nase voll. Seit Monaten gab es in der Stadt nur ein einziges Thema: Wie teuer wird das eigentlich?
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Gut; man muss allerdings auch dazusagen, dass der 3.10. ein künstliches, bürokratisches Datum war, und v.a. schon 11 Monate vergangen waren, seitdem die Mauer fiel. Es hätte mehr Sinn, den Tag im Nov. als Feiertag zu führen, Ueberschneidungen mit weiter zurückliegenden Ereignissen und Verbrechen hin oder her.
Die Frage hier hätte lauten müssen: Was empfanden die Hamburger an den Tagen um den 9.11.89? War man da wirklich so klein(lich) und hat sich vor den Kosten gefürchtet? Ich hoffe und denke: Nein.
Karlheinz hat geschrieben:
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Wie teuer ist dieser Spaß? Stehen Aufwand und Leistung in einem angemessenen Verhältnis zueinander? Diese rein kommerzielle Denkweise wirkt auf viele Zuwanderer zunächst sehr befremdlich, weil wir alles in Geld umrechnen.
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Verbuchen musste man wohl 4stellige Milliardenabgänge in den Osten, das ist wohl wahr (wenn man das auf die paar Männekes verbliebener Einwohner dort umrechnet: Wow.; und daher rührt wohl auch das totale Unverständnis im Westen ob der Jammermentalität der Ossis);
allerdings hat Voscherau - im Gegensatz zum Hier und Heute, wenn er von Griechenland faselt - nicht unrecht:
Karlheinz hat geschrieben:
...Unser Bürgermeister Voscherau von der SPD kannte seine Leute natürlich und versuchte schon seit Monaten die Wiedervereinigung als großartiges Geschäft darzustellen: Endlich bekommt Hamburg sein Hinterland zurück, mehr Konsumenten, mehr Umsatz usw. Doch so richtig glauben wollte das niemand. Bekannte und Verwandte von mir, die noch nie zuvor in der DDR gewesen waren, kamen entsetzt zurück. Die Städte waren doch eigentlich nur Ruinenlandschaften, das ganze Land ein Fall für die Abrissbirne.
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... denn gegenrechnen muss man freilich auch den Profit, den die Wirtschaft aus dem Aufbau Ost erwirtschaftet hat, und der Deutschland zu Beginn der 90er vor den Problemen, die andere EU-Staaten hatten, verschonte (allerdings hatte dies dann wieder Reformstau zur Folge, was wiederum zum Kranken Mann Europas Anfang der 2000er beitrug).
Karlheinz hat geschrieben:
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Ich kannte die DDR vorher eigentlich auch nicht. Die Propaganda des Kalten Krieges hatte dies Land immer in dunklen Farben gemalt. Jetzt musste ich sehen: Die Wirklichkeit war ja noch schlimmer. Selbst die düstersten Darstellungen der Propagandisten hatten diesen Staat eigentlich schön geredet. Die Realität übertraf die schlimmsten Befürchtungen bei weitem. Jeder Hamburger wusste deshalb: Das wird teuer, diese Wüstenei wird uns noch viel Geld kosten. Deshalb kam in der Nacht vom zweiten auf den dritten Oktober 1990 keine richtige Stimmung auf. Alle dachten an ihren Geldbeutel.
Sicherlich mitunter nicht einfach, den Feind, den es bisher zu vernichten (oder bestenfalls kaltzustellen) galt, auf einmal als Bruder und Schwester anzusehen, noch dazu, wenn er sich derart "undankbar" aufführt wie die Ossis.
Aber was hätte die Alternative dazu gekostet, bittschön?
Bei der kriminellen Energie drüben in Partei und Verwaltung, zwischen Russland und der Bundesrepublik, ein Machtvakuum mit umweltversiffender "Produktion" und verarmender Bev. ohne nützliche Ausbildung und Infrastruktur? Das hätte nun wirklich keiner bezahlen können. Weissrussland lässt grüssen.
Barbarossa hat geschrieben:Renegat hat geschrieben:...
Damals habe ich mich auch gefreut, genauso wie ich mich über den arabischen Frühling gefreut habe. Es ist eine schöne, hoffnungsvoll stimmende Menschheitserfahrung, wenn Menschen mit friedlichen Mitteln eine schnelle, politische Veränderung einleiten.
Genauso wie wir nicht vergessen dürfen, dass der arabische Frühling in Tunesien begann, obwohl man immer auf das dichtbesiedelte Ägypten starrt, sollten wir uns daran erinnern, dass die friedliche Revolution in der DDR sich an die polnischen Veränderungen anlehnte. Der polnische Kampf um mehr Freiheit begann 1980. Nach vielen Rückschlägen kam es schon im Sommer 1989 zu ersten freien Wahlen. Das soll nicht die Anerkennung der Demonstranten in der DDR schmälern, ich finde nur, dass man das zeitgenössische Umfeld nicht vergessen darf. Und die Tatsache, dass der, der zuerst aus der Reihe tritt, immer das höchste Risiko trägt.
Dass es bei der friedlichen Revolution in der DDR einen Zusammenhang mit den Ereignissen in Polen gab, behauptete Merkel auch. Ich bezweifle das aber. Und zwar bezweifle ich das deswegen, weil es mit Polen kaum Verbindungen gab. Man kam seit 1980 nicht mal mehr ohne Visum nach Polen. Und die Niederschlagung der Streiks reihte sich in die Kette der Niederschlagungen von Volksbewegungen ein und stimmte uns alles andere als hoffnungsvoll. So nahm ich (da kann ich jetzt aber auch nur von mir und meinem Umfeld sprechen) die Veränderungen in Polen wenn überhaupt, dann nur ganz am Rande wahr. Einen Bezug zu uns sah ich nicht, so wie auch die Veränderungen in der Sowjetunion unter Gorbatschow bei uns in keiner Weise irgendwelche politischen Kursänderungen gebracht hatten. Und die hätten eigentlich für uns weitaus größere Relevanz gehabt.
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Ich hatte vorher extra nix geschrieben, weil ich die Rolle der Proteste in Leipzig und Berlin und so nicht kleinreden wollte. Aber natürlich hatte es Vorreiter, die auch erheblich mehr riskiert hatten (und auch tatsächlich mehr bezahlten, ob nun hinterher von Erfolg belohnt oder nicht - Stichwort Tiananmen) und damit auch über Jahrzehnte die Aufmerksamkeit der Sowjetunion wesentlich stärker beschäftigten als irgendjemand in der DDR. Dazu gehört mit Sicherheit Solidarność. Und Gyula Horn hatte den Grenzzaun ja bereits durchschnitten, bevor es zu den Leipziger Massendemos kam. Und das wusste man.
Barbarossa hat geschrieben:
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Edit:
Übrigens: Wenn ihr zu unserem Teil Deutschlands so wenig Bezug hattet, dann hättet ihr euch vielleicht gelegentlich mal die Präambel des Grundgesetzes anschauen sollen, wo bis 1992 drin stand:
Präambel
Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,
von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk
in den Ländern Baden, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern,
um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben,
kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen.
Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war.
Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
Quelle:
http://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4am ... r_Wortlaut
Ich meine, wenn für euch die Einheit Deutschlands kein wirkliches Ziel mehr war, dann hätte es in eurer Hand gelegen, die Präambel ändern zu lassen und die entsprechenden weiteren Artikel (Art.23,146) streichen zu lassen. Ist aber nicht passiert und Kohl hat uns die Signale gesendet, die wir hören wollten.
Das GG ist ja nicht so leicht zu ändern;
und Kohl hatte sich schon deswegen beeilt, weil er merkte, dass die Sympathie mit den Ostbürgern rapide schwand (was auch auf totales gegenseitiges Unverständnis zurückzuführen ist, was man auch nach 25 Jährchen hier im Forum allerdeutlichst herausliest). Abgesehen von wirtschaftlichen und politischen Notwendigkeiten, die imho absolut stringent waren.
dieter hat geschrieben:Barbarossa hat geschrieben:Paul hat geschrieben:Die Reformen in der Sowjetunion und die Regierung durch Gorbatschof haben natürlich den Weg bereitet, das die Reformbewegung in der DDR nicht mehr unterdrückt wurden. Für Gorbatschof waren natürlich auch die Reformen in Polen ein Zeichen dafür, das diese Reformen letztlich nur noch mit Gewalt zu unterdrücken waren, wenn überhaupt und dies wollte Gorbatschof auch einfach nicht. Er wollte Demokratie und keine Unterdrückung.
Ja, Gorbatschow ließ die sowjetischen Panzer in den Kasernen, was er auch öffentlich sagte. Das war das Signal, das den Bürgerrechtlern und vielen Bürgern sicher Mut gab. Ich behaupte aber, den Anstoß für die Veränderungen gab die Evangelische Kirche und die Christen bei uns im Land und zwar allein. Gorbatschow schaffte mit seiner Zurückhaltung die Rahmenbedingungen dafür.
Lieber Barbarossa,
Du sagst es. Nun zum 187 mal, wenn die Ev. Kirche und die Christen einen so großen Einfluß bei der Vereinigung hatten, so kann ich es immer noch nicht verstehen, dass Ostdeutschland überwiegend atheistisch eingestellt ist. Soviel Undankbarkeit schlägt doch dem Fass den Boden aus.
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Obwohl ich einsehe, dass Dankbarkeit ein Seelenzustand bzw. Aeusserung derselben und Haltung der Einzelperson ist und nicht einfach auf die Summe der Psyche eines Kollektivs übertragen werden kann,
muss ich ehrlich sagen, dass mich das auch wurmt. Auch ich kann mich gegen das Stereotyp vom egoistischen Jammerossi nicht immer erwehren, der den Westen abgezockt hat, immer schön auf den eigenen Vorteil bedacht ist, Andere für schlechte Jobs und miese Ausbildung verantwortlich macht, die eigene (in Staat und Partei z.T. kriminelle) Vergangenheit schönredet bzw. gar nicht erst bedenkt oder überdenkt. Das ist freilich 'ne Verzerrung und beruht auf Vorurteilen bzw. ist das Resultat aus bequemer Sicht aus dem Sessel im Westen, aber man kann sie oft - auch hier im Forum - zumindest in Teilen bestätigt finden.
Wär' sicherlich interessant zu sehen, wie jemand das erlebt, der die Zeit vor 1989 nicht mehr aktiv erlebt hat oder aber danach in den Osten gegangen ist, wie Vergobret (denn er schrieb ja hier irgendwo, dass die Ostbürger abgezockt worden wären. Das wär' genau das Gegenteil von meinem Vorurteil oben).
LG