zu Barbarossa:
Tut mir leid, ich sehe in dem Programm von Engels nichts, was auf eine Diktatur deutet. Die meisten seiner Forderungen sind inzwischen auch in westlichen Staaten erfüllt worden oder waren es schon einmal.
1. Beschränkung des Privateigentums durch Progressivsteuern, starke Erbschaftssteuern, Abschaffung der Erbschaft der Seitenlinien (Brüder, Neffen etc.), Zwangsanleihen pp.
Progressionssteuern gibt es inzwischen überall, in Schweden sogar 80%, über eine Reichensteuer wird mancherorts diskutiert. Erbschaftssteuern, die fast auf eine Enteignung hinausliefen, gab es lange Zeit in England.
2. Allmähliche Expropriation der Grundeigentümer, Fabrikanten, Eisenbahnbesitzer und Schiffsreeder, teils durch Konkurrenz der Staatsindustrie, teils direkt gegen Entschädigung in Assignaten.
Ein großer Teil der Wirtschaft befindet sich inzwischen in staatlicher Hand oder war es bis vor kurzem: Eisenbahnen, Wasser-und Gas, Elektrizität, es gibt zahlreiche Staatsbetriebe oder Betriebe mit staatlicher Beteiligung. Die Privatisierungen von Teilbereichen erfolgten ja erst kürzlich
Vielfach ist so gelaufen, dass die vormaligen Privatbetriebe bankrott waren und der Staat sie aufkaufte.
3. Konfiskation der Güter aller Emigranten und Rebellen gegen die Majorität des Volks.
Punkt 3. Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes wurde tatsächlich die Enteignung von Kriegsverbrechern gefordert, geplant war die Verstaatlichung von deren Grundbesitz und zahlreicher Fabriken. Ist leider nicht passiert.
4. Organisation der Arbeit oder Beschäftigung der Proletarier auf den Nationalgütern, Fabriken und Werkstätten, wodurch die Konkurrenz der Arbeiter unter sich beseitigt und die Fabrikanten, solange sie noch bestehen, genötigt werden, denselben erhöhten Lohn zu zahlen wie der Staat.
In Punkt 4 wird lediglich gefordert, das Gewerkschaften zugelassen werden (was es bei Engels noch nicht gab) und Tarifverträge eingehalten werden (die es damals auch nicht gab) und ein Mindestlohn gezahlt werden muss. Das erste wurde inzwischen erreicht, Punkt zwei wird diskutiert.
5. Gleicher Arbeitszwang für alle Mitglieder der Gesellschaft bis zur vollständigen Aufhebung des Privateigentums. Bildung industrieller Armeen, besonders für die Agrikultur.
Der Punkt 5 ist durch das Wort Arbeitszwang unglücklich formuliert, aber jeder Arbeitslose oder Empfänger von Hartz IV weiß, dass es auch bei uns einen staatlichen Zwang zur Arbeitsaufnahme gibt.
6. Zentralisierung des Kreditsystems und Geldhandels in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und Unterdrückung aller Privatbanken und Bankiers.
Der Punkt 6 beispielsweise ist gar nicht so verkehrt und in Island und Irland hat man ja jetzt auch die Banken verstaatlicht.
Er fordert hier eine Nationalbank, die es zu seiner Zeit noch nicht gab. Inzwischen wurde dies überall ralisiert.
7. Vermehrung der Nationalfabriken, Werkstätten, Eisenbahnen und Schiffe, Urbarmachung aller Ländereien und Verbesserung der schon urbar gemachten, in demselben Verhältnis, in welchem sich die der Nation zur Verfügung stehenden Kapitalien und Arbeiter vermehren.
Punkt 7 fordert wirtschaftliches Wachstum. Auch für unsere Regierung ein zentrales Problem.
8. Erziehung sämtlicher Kinder, von dem Augenblicke an, wo sie der ersten mütterlichen Pflege entbehren können, in Nationalanstalten und auf Nationalkosten. Erziehung und Fabrikation zusammen.
Punkt 8 ist in der Tat bedenklich, sofern hier nicht Kita-Plätze gemeint sind und die konsequente Durchführung einer allgemeinen Schulpflicht (bei Engels nicht selbstverständlich)
9. Errichtung großer Paläste auf den Nationalgütern als gemeinschaftliche Wohnungen für Gemeinden von Staatsbürgern, welche sowohl Industrie wie Ackerbau treiben und die Vorteile sowohl des städtischen wie des [374] Landlebens in sich vereinigen, ohne die Einseitigkeiten und Nachteile beider Lebensweisen zu teilen.
Punkt 9 So etwas einzuführen, wäre wirklich sehr lobenswert. Wir haben nur den sozialen Wohnungsbau und der stockt zurzeit. Die Forderung von Engels ist ausgesprochen positiv und schreit nach Verwirklichung.
10. Zerstörung aller ungesunden und schlecht gebauten Wohnungen und Stadtviertel.
Punkt 10. Finde ich gut, wenn man das machen würde.
11. Gleiches Erbrecht für uneheliche wie für eheliche Kinder.
Punkt 11. Was ist dagegen zu sagen? Ist, glaube ich, inzwischen auch realisiert worden.
12. Konzentration alles Transportwesens in den Händen der Nation.
Punkt 12 Wurde teilweise realisiert beispielsweise die Deutsche Bundesbahn. Zu Zeit von Engels war vieles noch privat.
Ich sehe hier wirklich keine Diktatur, beim besten Willen nicht. Der entscheidende Unterschied ist doch der: Werden solche Maßnahmen in einer freien Gesellschaft auf demokratische Weise durchgesetzt oder durch eine Funktionärskaste mit Zwang? Passiert es auf demokratische Weise, sind die Forderungen von Engels durchaus positiv. Da viele seiner Forderungen im Westen inzwischen realisiert wurden, können wir dies nun beurteilen. Wendet man aber Zwang an, kommt nichts Gutes dabei heraus, das zeigt die DDR.
Natürlich wollte Engels keinen reformierten Kapitalismus, sondern eine sozialistische Gesellschaft. Wenn aber eine Gesellschaft sich auf demokratische Weise für den Sozialismus entscheidet, was ist dagegen zu sagen? Selbst unser Grundgesetz schreibt keine kapitalistische Gesellschaft vor. Die Väter des Grundgesetzes haben bekanntlich die Gesellschaftsform der Bundesrepublik offengelassen. Das löste in späteren Zeiten zahlreiche Diskussionen aus.
Angenommen, Friedrich Engels und Rosa Luxemburg würden plötzlich wieder zu neuem Leben erwachen, wo würden sie sich heute politisch wiederfinden? Engels würde feststellen, dass die meisten seiner Forderungen auch vom Kapitalismus erfüllt werden konnten. Er war Sohn eines Unternehmers. Wo stände er heute? SPD oder Grüne, vermute ich. Oder sogar auf dem Arbeitsnehmerflügel der CDU, wie einige glauben, da sie ihn in Wirklichkeit eher als konservativ einschätzen?
Und Rosa Luxemburg? Bei den „Linken“ oder in der SPD? Oder wäre sie politisch heimatlos? Eigentlich hätte sie sich mit beiden überwerfen müssen.