Thierse zeigt, wie man es nicht machen sollte_oder doch?

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Moderator: Barbarossa

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Balduin
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Kommentar

Um den Jahreswechsel verschaffte sich ein relativ farbloser Politiker mediale Beachtung, in dem er gegen die nach Berlin zugezogene Schwaben wetterte: Er beschwerte sich darüber, dass diese nicht den in Berlin gebräuchlichen Begriff Schrippen, sondern Wecken gebrauchen und sich nicht anpassen bzw. integrieren würden.

Das scheint zuvorderst einmal eine sehr krude Diskussion zu sein, zeigt aber deutlich, wie ein Politiker es nicht machen sollte:
  • Man stelle sich vor, es wäre nicht von Schwaben die Rede, sondern von fremdländischen Mitbürgern... Wären die Reaktionen auch so verhalten ausgefallen?
  • Ein Politiker sollte nicht zu flapsigen Aussagen hinreißen lassen, die vor Vorurteilen strotzen und eben keine Relevanz haben. Was hat er damit erreicht? Dass er für ein paar Tage in aller Munde ist?
  • Wie kann es eigentlich sein, dass der Bundestagsvizepräsident sich zu solch Themen äußert, aber zur schleichenden Entmachtung des Bundestages im Zuge der Eurokrise mit immer schneller durchgewunkenen Eilgesetzen schweigt?
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He has called on the best that was in us. There was no such thing as half-trying. Whether it was running a race or catching a football, competing in school—we were to try. And we were to try harder than anyone else. We might not be the best, and none of us were, but we were to make the effort to be the best. "After you have done the best you can", he used to say, "the hell with it". Robert F. Kennedy - Tribute to his father
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Triton
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So wie ich den Thierse einschätze, hat er es so gemeint: Nicht nur die Türken behalten ihre Kultur und lernen die Sprache nur ungern, die Deutschen benehmen sich ganz genauso. Und das stimmt ja auch. Wobei die (gegenseitige) Zuneigung der Berliner zu den ungewöhnlich vielen Schwaben in Berlin sowieso besonders innig zu sein scheint.

Tiefer hängen, würde ich sagen.

Beste Grüße
Joerg
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Renegat
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Den Thierse-Spruch hatte ich auch so verstanden wie Triton. Kann mir gut vorstellen, dass Thierse den genauso gemeint hat und fand ihn deshalb recht gelungen. Feine, ironische Spitzen kommen in Politik und Medien kaum noch vor, schade eigentlich.
Der Threadtitel paßt deshalb nicht besonders. Wie wäre es mit "Wird Ironie heute in Politik und Medien noch verstanden?"
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dieter
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Ich sehe es ähnlich wie meine Vorschreiber. Es sollte damit nur gesagt werden, dass jede Bevölkerungsgruppe ihre eigene Identität behalten will. :wink:
Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem Andern zu.
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Barbarossa
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Ich muß sagen, das ist bei mir völlig untergegangen. Ich glaube aber, das Problem sitzt tiefer, als viele denken. Ich hab dewegen jetzt mal die Meldungen dazu rausgesucht.

Der "Stein des Anstoßes":
Thierse, der seit 40 Jahren in Prenzlauer Berg wohnt, hatte sich in einem Interview mit der "Berliner Morgenpost" über die zahlreichen zugezogenen Schwaben in seinem Heimatbezirk ausgelassen. "Ich ärgere mich, wenn ich beim Bäcker erfahre, dass es keine Schrippen gibt, sondern Wecken", sagte der SPD-Politiker. "In Berlin sagt man Schrippen - daran könnten sich selbst Schwaben gewöhnen." Ebenso störe es ihn, wenn ihm in Geschäften "Pflaumendatschi" angeboten würden. "Was soll das? In Berlin heißt es Pflaumenkuchen", sagte Thierse weiter.
hier: Quelle
Der Bundestagsvizepräsident hatte von den zugezogenen Schwaben ein grundsätzliches Umdenken gefordert: "Ich wünsche mir, dass die Schwaben begreifen, dass sie jetzt in Berlin sind und nicht mehr in ihrer Kleinstadt mit Kehrwoche."
hier: Quelle

Prominente Gegenstimmen dazu:
Grünen-Chef Cem Özdemir sagte der "Bild"-Zeitung, viele Schwaben kämen zum Arbeiten nach Berlin. "Die Berliner sollen uns Schwaben dankbar sein und nicht über uns lästern wie Herr Thierse." Schriftstellerin Gaby Hauptmann meinte, die Schwaben seien in der Hauptstadt hoch angesehen. "Wenn der Herr Thierse das nicht versteht, macht er was falsch."
hier: Quelle
"Herr Thierse versucht, ein billiges Hintertürchen zu nehmen, indem er sich jetzt mit 'Humor' herausreden will", reagierte CDU-Landeschef Thomas Strobl erbost. Thierses Äußerungen seien "totaler Stuss" ... Nicht zuletzt sollten sich die Berliner mit Blick auf den Länderfinanzausgleich gut überlegen, mit wem sie sich anlegen. "Es sollte nicht ganz vergessen werden, welch grenzenlose Solidarität gerade Berlin über Jahrzehnte erfahren hat."
hier: Quelle
Mit etwas mehr Humor reagierte FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke: "Wir machen ein Toleranzabkommen mit Thierse: Er akzeptiert, dass die Schwaben Kehrwochen abhalten und die Schwaben, dass er Friseure meidet", meinte er auf Twitter. Dort nahm auch der Grünen-Politiker Alexander Bonde die auffällige Gesichtsbehaarung auf's Korn. "Mal ehrlich, der Humor von Thierse hat schon lang so nen Bart", schrieb der baden-württembergische Verbraucherminister.
hier: Quelle

Kurz darauf:
Thierse stellte klar, er habe sich lediglich darüber geärgert, "dass die Schwaben erwarten, dass es in Berlin so ordentlich zugeht wie in Schwaben". Mit den darauffolgenden Anfeindungen habe er nicht gerechnet. Die "Heftigkeit der Beschimpfungen" habe ihn erschreckt.
hier: Quelle

Meine Meinung:
Ich finde es schon wichtig, daß regionale Eigenheiten erhalten bleiben. Ich würde auch keinen anderen Dialekt/Sprache zu lernen anfangen, nur weil eine große Anzahl von Migranten sich hier niedergelassen hat.

Und übrigens benutze ich auch noch die Begriffe, wie ich sie in der DDR benutzt habe:

ich sage z. B.:

- nicht "Supermarkt" sondern "Kaufhalle" oder ich nenne die spezielle Handeskette beim Namen;
- nicht "Mineralwasser" oder "Wasser" sondern "Selter":

und

- ich nenne das "Brötchen" auch "Schrippe", während es hier zwar auch die "Semmel" gibt, nur ist das hier ein doppeltes Brötchen;
- die "Frikadelle" heißt hier "Boulette";
- statt "Brathähnchen" sage ich oft auch noch "Broiler"


Ich muß ganz ehrlich sagen:
Würde ich (so wie es Thierse offenbar passiert ist) einen Hinweis bekommen, ich sollte einen Begriff aus einem mir fremden Dialekt benutzen, würde ich auch sauer reagieren. Ich finde, sowas geht nicht. Oder wie würdet ihr reagieren, wenn ihr ab sofort die von mir oben genannten Begriffe benutzen solltet und nicht mehr die bisher gewohnten?

Edit:
Insofern würde ich den Titel erweitern in:

"Thierse zeigt, wie man es nicht machen sollte...
...oder doch?"
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Renegat
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Es geht doch nur oberflächlich um Begriffe, Barbarossa.
Aber gut, bist du umgezogen und sagst im Westen Broiler oder Kaufhalle?
Wenn ja, ist das nun auch nicht schlimm, ich kenne viele Leute aus der ehem. DDR, die diese Begriffe weiter benutzen und die es mit Humor nehmen, wenn sie im Westen deshalb geneckt werden. Ein Dialektsprecher in der Fremde braucht schon eine Portion Selbstbewußtsein.
Besonders schön konnte man die ehem. Grenze bei der Wohnugssuche erkennen, eine 2-Raumwohnung outete ziemlich sicher den Ostler, na und. :lol:

Auch innerdeutsch braucht man die berühmte Prise Toleranz, gerade im Schmelztiegel Berlin. Und so hatte ich Herrn Thierse verstanden.

Auch Edit, ja zum Ändern des Titels, schließlich sagt da ein Politiker mal in humoriger Weise, was er denkt, da sollten wir nicht ins allgemeine Pressegeheul einstimmen.
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Barbarossa
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Renegat hat geschrieben:Auch Edit, ja zum Ändern des Titels, schließlich sagt da ein Politiker mal in humoriger Weise, was er denkt, da sollten wir nicht ins allgemeine Pressegeheul einstimmen.
:arrow: Ok, dann hab ich den Titel jetzt erweitert, denn ich finde tatsächlich, daß Thierse gar nicht mal so im Unrecht ist.

Begründung:
Renegat hat geschrieben:Es geht doch nur oberflächlich um Begriffe, Barbarossa.
Aber gut, bist du umgezogen und sagst im Westen Broiler oder Kaufhalle?
Wenn ja, ist das nun auch nicht schlimm, ich kenne viele Leute aus der ehem. DDR, die diese Begriffe weiter benutzen und die es mit Humor nehmen, wenn sie im Westen deshalb geneckt werden. Ein Dialektsprecher in der Fremde braucht schon eine Portion Selbstbewußtsein...
Das stimmt sogar, was du schreibst, daß es nur oberflächlich um Begriffe geht.
Wenn ich dauerhaft in eine fremde Region oder gar Land ziehe, muß ich mich der jeweiligen Landessprache anpassen --> es kann nicht umgekehrt sein!
Das selbe wird ja auch von den hier niedergelassenen Migranten aus der Türkei, Griechenland, Spanien oder Russland erwartet - völlig zu recht. Sie müssen Deutsch lernen. Und umgekehrt wird von mir zu recht erwartet, daß ich z. B. Spanisch lerne, wenn ich mich in Spanien niederlassen würde.
Genauso kann man von den sich hier niedergelassenen Schwaben (ich bleibe jetzt mal bei dem Beispiel, genauso könnte ich aber auch Bayern oder Rheinländer nehmen) erwarten, daß sie die hiesigen Begriffe annehmen und sich der Region anpassen, wo sie sich niedergelassen haben.
Ich fürchte, das ist auch ein Teil des Problems, das norvegia (dessen PC leider gerade kaputt ist) immer anspricht.
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Barbarossa
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Noch ein Zusatz (zur Übersichtlichkeit aber in einem neuen Beitrag):

Ich möchte das Thema hier nicht zwingend als Ost/West - Thema verstanden wissen.
Es geht rein nur um die Erhaltung regionaler Eigenheiten in ganz Deutschland.

Denn ich denke, es wäre genau das gleiche, wenn es einen großen Zuzug von Sachsen/Thüringern oder von Mecklenburgern hier in den Raum von Berlin und Brandenburg geben würde. Ich schätze, es gäbe ganz ähnliche Reaktionen in der Bevölkerung, wenn hier plötzlich sächsische Wörter Einzug halten würden.


Übrigens ich erinnere mich: Es war in der DDR in den 70er Jahren tatsächlich der Fall, daß es einen größeren Zuzug aus dem Raum von Sachsen und Thüringen in den hiesigen Raum gab. Es war aber nicht so, daß wir hier Sächsisch lernen mußten.
:wink:
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Renegat
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Das ist auch geschichtlich ein guter Hinweis, wenn ich an den Zuzug von Mio. Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem 2. WK denke. Die sprachen teilweise untereinander schon ihren Dialekt. In die nächsten Generationen haben sie den aber idR nicht vererbt, sondern die haben sich ganz automatisch an das Umfeld angepaßt.
Bei vielen Mitbürgern, deren Vorfahren aus der Türkei oder anderen Ländern stammen, ist das aber genauso. Ich habe jahrelang berufllich mit den verschiedensten Menschen telefoniert, da ordnet man nach der Sprachklangfarbe ein und ein Herr Özlem ist Deutscher, weil er genauso spricht.
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Triton
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Renegat hat geschrieben:Der Threadtitel paßt deshalb nicht besonders. Wie wäre es mit "Wird Ironie heute in Politik und Medien noch verstanden?"
Wurde noch nie verstanden. Die meisten Menschen haben schon Schwierigkeiten, das ohne Ironie gesagte zu verarbeiten. Angela Merkel wird nicht zuletzt so geschätzt, weil sie so langweilig und simpel daherkommt (sie könnte es natürlich auch besser).

Eine politische Kabarettsendung hat ein paar Hansel Einschaltquote, der Komödienstadel 10 Mio.

Ich kann mir übrigens nicht vorstellen, dass die Sauschwaben in Berlin ihren Dialekt (der den meisten Schwaben eh peinlich ist) durchsetzen wollen. Die können es einfach nicht besser und denken nicht drüber nach. Wahrscheinlich strengen sich die meisten Schwaben schon "saumäßig" an, hochdeutsch zu sprechen. Breites Älblerschwäbisch versteht nämlich in Berlin keine Bäckereifachverkäuferin.

"Wir können alles, außer hochdeutsch", schon vergessen?

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Joerg
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dieter
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Ihr Lieben,
viel Lärm um nichts, jeder soll so sprechen wie ihm der Schnabel gewachsen ist. :wink: Anders ist es schon mit der mentalen Einstelleung zu den Dingen des Lebens. Ich bin gebürtiger Nordhesse aus Kassel, als ich das erste mal nach Frankfurt/M. kam, fand ich diesen sühessischen Dialekt schöner als unser hartes Nordhessisch. Aber die Einstellung stimmte nicht, Wenn ich einen Klassenkameraden darauf aufmerksam machte, dass er Gestern genau das Gegenteil von Heute vertreten hatte, dann kam der Spruch: "Was kümmert mich mein dumm Geschwäz von Gestern." Oder sie sich wieder recht skrupelos Dinge aneignen, dann hieß es : "Wenns geht, dann gehts". :wink: :mrgreen: Das kannte ich aus Nordhessen nicht, da stand jemand zu seiner Meinung, wie falsch die auch sein mochte. :roll:
Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem Andern zu.
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Barbarossa
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dieter hat geschrieben:... Das kannte ich aus Nordhessen nicht, da stand jemand zu seiner Meinung, wie falsch die auch sein mochte. :roll:
Jetzt wird mir einiges klar...
(Vorsicht! Etwas derbe Ironie! :mrgreen: )

Aber im Ernst:

Laut dem Tagesspiegel ist der eigentliche Hintergrund ein soziales Problem:
Stadtentwicklung
Schwaben-Streit? Berlin sollte größere Brötchen backen
von Werner van Bebber

Es geht nicht um Schrippen und darum, wie man sie in Berliner Bäckereien bezeichnen sollte, meint Werner van Bebber. In der Schwaben-Debatte geht es um Überfremdungsgefühle, Migrantenpflichten, die Macht des Geldes und die Notwendigkeiten einer Stadtentwicklungspolitik.
(...)
Des einen Investition in einen sanierten Altbau ist des anderen unerträgliche Mietsteigerung: Das genau ist eines der hässlichen Gesetze des großstädtischen Lebens...
hier: weiterlesen
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Peppone
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Also, ich hab selber schon im "innerdeutschen Ausland" gelebt. Und zwar interessanterweise sowohl in Schwaben (Tübingen) als auch in Berlin. Beide Male habe ich mich bemüht, hochdeutsch zu sprechen, in Tübingen habe ich mir interessanterweise darüber hinaus angewöhnt, "au" statt "auch" zu sagen...
Beide Male habe ich beim Bäcker "Brötchen" oder "Brötle" bestellt. Zu Hause dann wieder Semmeln.
Wobei mir dann zu Hause bekundet wurde, Semmeln habe man nicht, nur Schrippen...auf meinen Einwand, das, was mir da als Schrippen verkauft wurde, seien bisher "Eiweckerl" gewesen, bekam ich die Auskunft, die würden eben jetzt als "Schrippen" verkauft. Der Verkäuferin (eine in meinem Dorf Alteingesessene) war das schon ein bisschen peinlich, aber ihr Chef hatte ihr das so vorgeschrieben...aus Rücksicht auf die Kunden...angeblich. Ich kann es mir bis heute nicht vorstellen, dass mein (zugegebenermaßen in den letzten 30, 40 Jahren um 1000% gewachsenes) Dorf derart von Preußen "überfremdet" ist. Aber gut. Ich bestelle zu Hause weiterhin meine Semmeln. Die Sternsemmeln werden ja zum Glück weiter als "Semmeln" verkauft. Die Feinheiten des Bäckerfachverkäuferberufes....
:roll:
In Berlin gelten übrigens seit den 90er Jahren alle aus dem alten (Süd-)Westdeutschland "eingewanderten" als "Schwaben", ob sie jetzt aus dem Rheinland oder aus der Pfalz oder aus Hessen stammen. Nur die Bayern sind nach wie vor die Bayern (hinter vorgehaltener HJand auch "Bazis" genannt, wobei dem Berliner allgemein unbekannt ist, dass der gemeine Bayer, d.h. der, der noch Dialekt spricht, das gemeinhin zumindest halb als anerkennend empfindet...).
Das mag damit zusammen hängen, dass anfangs viele Beamte aus Ba-Wü nach Berlin geholt wurden, und dass viele Firmen aus Ba-Wü DDR-Betriebe übernommen haben. Auch ein Faktor dürfte gewesen sein, dass sich halt grade die Schwaben durch ihr eindeutig gefärbtes Hochdeutsch verraten haben, die Pfälzer, Rheinländer usw. aber nicht. Die Schwaben outeten sich also eindeutig als Wessis, was dann von den Berlinern begrifflich auf alle Wessis, auch die Nichtschwaben, ausgeweitet wurde.

Und da gerade in Mitte, wo viele dieser West-Beamten arbeiteten und auch wohnen wollten, die Gentrifizierung zuerst wirksam wurde, hatten die "Schwaben" = Wessis in Mitte schnell ihren schlechten Ruf als Schnösel weg...

Der Berliner (wenn es ihn denn gibt) steht nämlich zu dem Spruch "arm, aber sexy". Er mag seine etwas heruntergekommene, aber hippe Stadt...

Beppe
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dieter
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Wohnort: Frankfurt/M.

Barbarossa hat geschrieben:
dieter hat geschrieben:... Das kannte ich aus Nordhessen nicht, da stand jemand zu seiner Meinung, wie falsch die auch sein mochte. :roll:
Jetzt wird mir einiges klar...
(Vorsicht! Etwas derbe Ironie! :mrgreen: )
Lieber Barbarossa,
was ist Dir klar geworden :?: Dass ich nicht automatisch Deine Meinung vertrete, das kannst Du von einem selbstständig denkenden Menschen auch nicht erwarten. :roll: Der Vorteil ist, man kann sich darauf verlassen und nicht wie bei Angie im Energiestreit ganaue das Gegenteil von dem anstreben, was man vorher wollte. :roll: Das ist nur ein Beispiel von vielen bei Angie, dafür wird sie auch noch von vielen Menschen als große Politikerin angesehen. :wink:
Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem Andern zu.
RedScorpion

Ralph hat geschrieben: ...
  • Man stelle sich vor, es wäre nicht von Schwaben die Rede, sondern von fremdländischen Mitbürgern...
...
Ist doch ständig. Nur heisst das eben dann "Leitkulturdebatte", "Deutschland schafft sich ab", "die PIGS melken das wackere Deutschland", "Scharia" usw. Imho ein anderes Kaliber als Thierses (btw. farblos?) Gags.


Barbarossa hat geschrieben: ...
Das stimmt sogar, was du schreibst, daß es nur oberflächlich um Begriffe geht.
Wenn ich dauerhaft in eine fremde Region oder gar Land ziehe, muß ich mich der jeweiligen Landessprache anpassen --> es kann nicht umgekehrt sein!
...
Naja, "Boulette", "Datsche" u.ä. sind nicht wirklich urgermanische Bezeichnungen ("Frikadelle", "Chalet" usw. allerdings auch nicht). Kommt immer darauf an, wie stark eine Einwanderungsgruppe ist, wie gross ihr Prestige (bzw. jenes ihrer Sprache) ist und - nicht zuletzt - wie praktisch die mitgebrachten Ausdrücke sind (eine Datsche ist kein Häuschen ist kein Chalet ist keine Maisonette ist keine Hütte).

Barbarossa hat geschrieben: ...
Das selbe wird ja auch von den hier niedergelassenen Migranten aus der Türkei, Griechenland, Spanien oder Russland erwartet - völlig zu recht. Sie müssen Deutsch lernen. Und umgekehrt wird von mir zu recht erwartet, daß ich z. B. Spanisch lerne, wenn ich mich in Spanien niederlassen würde.
...
Nur genau das tun Deutsche i.d.R nicht (Angelsachsen allerdings auch nicht), denn als Deutscher hat man's ja nicht nötig, bewohnt man doch selbst den Olymp der Kultur und überhaupt der Zivilisation. Das ist der Tenor deutscher Politik der letzten Jahre und auch die Mentalität vieler Deutscher in der Schweiz, und nicht nur dort (mitunter durchaus auch in Foren, auch in diesem).

Ich denke auch, es geht nicht um Sprache und um ein paar Begriffe, sondern generell um Auftreten von sozialen Gruppen und Auswirkungen von finanzieller Not (nicht nur in Berlin, sondern auch in der Schweiz z.B.). Und - da gebe ich Thierse recht - um die Doppelmoral in Sachen Anspruch an Integrationsleistungen durch Ausländer vs. eigene Kleinstleistungen im täglichen Umgang.

Barbarossa hat geschrieben: ...
Übrigens ich erinnere mich: Es war in der DDR in den 70er Jahren tatsächlich der Fall, daß es einen größeren Zuzug aus dem Raum von Sachsen und Thüringen in den hiesigen Raum gab. Es war aber nicht so, daß wir hier Sächsisch lernen mußten.
:wink:
Einwanderung nach Berlin hat eine lange Tradition (es waren Siemens u.a., die sich nach 1945 vom Acker gemacht haben; gross wurden sie zuvor durch Einwanderer), unterbrochen erst seit 1933/43, besonders im Westen, aber m.W. auch im Osten (sinkende Bev.zahlen bis 1989),

ab 1870 mit Sicherheit wesentlich stärker als heute.

Der Unterschied zum Heute ist, dass Preussen und Berlin damals finanzstark waren und Württemberg +-Armenhaus.
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