Kein Verteidigungskrieg!

Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts

Moderator: Barbarossa

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Balduin
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War der Erste Weltkrieg für das Deutsche Kaiserreich ein Verteidigungskrieg? Das kann mit einem klaren Nein beantwortet werden: https://geschichte-wissen.de/blog/war-d ... ungskrieg/
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He has called on the best that was in us. There was no such thing as half-trying. Whether it was running a race or catching a football, competing in school—we were to try. And we were to try harder than anyone else. We might not be the best, and none of us were, but we were to make the effort to be the best. "After you have done the best you can", he used to say, "the hell with it". Robert F. Kennedy - Tribute to his father
andreassolar
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Balduin hat geschrieben: 16.08.2023, 21:41 War der Erste Weltkrieg für das Deutsche Kaiserreich ein Verteidigungskrieg? Das kann mit einem klaren Nein beantwortet werden: https://geschichte-wissen.de/blog/war-d ... ungskrieg/
Sauer 'hinterfragt' in seiner Veröffentlichung die offizielle Darstellung der Reichsregierung des Krieges als Verteidigungskrieg nach Beginn des Krieges. Das ist nichts Neues, scheint mir, Sauer referiert ja auch Fritz Fischer und dessen verkürzende und verkürzte Interpretationen und Quellenrecherchen wie -nutzung.

Die Fragestellung geht entsprechend nicht dahin, ob der WKI. für das Dt. Kaierreich ein Verteidigungskrieg gewesen war, 'in Wirklichkeit'. Sauer widmet sich der nach Kriegsbeginn offiziös ausgegebenen Parole der Reichsregierung vom 'Verteidigungskrieg'.

Die KriegszielPostulate vom September, im 2. Kriegsmonat, bilden keineswegs nachträglich die angeblich in Wirklichkeit schon lange vor Kriegsbeginn allseits vorhandenen, dominierenden und unweigerlich kriegsauslösenden und kriegstreibenden Motive ab.
Die Reichsführungen antizipierten durchaus auch die möglichen Entwicklungen aus den allmählich wachsenden militärischen und militärstrategischen wie militärpolitischen Frontstellungen der beiden unmittelbar an Dt. Kaiserreich angrenzenden Großmächte im Westen wie im Osten - immer wieder und erneut in der Illusion bis ins zeitige Frühjahr1914, UK auf die Seite des Dt. Kaiserreiches ziehen zu können bzw. von einem festeren Bündnis mit den Großmächten Frankreich und Rußland abhalten zu können.
Bernhard Sauer
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Es läßt sich nachweisen,dass die im Septemberprogramm zusammengefaßten Kriegsziele nicht erst mit Kriegsbeginn aufgestellt wurden,sondern zum großen Teil Vorstellungen und Bestebungen aus der Vorkriegszeit aufgriffen.So konnte Wihlem Solf bei der Aufstellung eines Konzepts eines mittelafrikanischen Kolonialreiches auf vorbereitete Vorkriegspläne zurückgreifen.Ähnliches läßt sich auch für die anderen Kriegsziele sagen.Die Alldeutschen und die großen Industrieverbände
haben schon lange vor Kriegsbeginn Ziele formuliert wie sie dann im Septemberprogramm enthalten sind.
Aber selbst wenn tatsächlich die Eroberungsziele erst im September 1914 aufgestellt worden wären,warum wurden sie aufgestellt,wenn sie nicht den Intentionen der führenden Kreise des
Kaiserreiches entsprochen hätten?
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Balduin
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Vielen Dank für den Beitrag Herr Sauer. Schön, dass hier ein Austausch zwischen Autor und Lesern zustande kommt.

Mir fällt in dem Zusammenhang eine Buchstelle ein: Ein japanischer Geheimdienstoffizier namens Yamamoto sagte 1919, dass in 10 oder 15 Jahren die Welt japanisch sprechen würde. Sie werde es müssen, wenn sie mit dem japanischen Fortschritt mithalten wolle.

Was ich damit sagen will: In vielen Ländern gab es in dieser Zeit diese hegemonialen Bestrebungen, genährt von riesigem Nationalismus.
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Barbarossa
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Richtig Balduin. Und da Historiker beim Kriegsbeginn immer auf das Deutsche Kaiserreich fokussiert sind, sei nur einmal daran erinnert, dass die erste Kriegserklärung von Österreich-Ungarn an Serbien gestellt wurde, womit alles begann. Zweifelsfrei gab es Falken natürlich auch in Deutschland - den Kaiser würde ich da aber noch nicht einmal dazu zählen. Er war wie meistens eher schwankend in seiner Haltung - das hatte ich in einem Magazin bereits herausgearbeitet.
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andreassolar
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Es läßt sich nachweisen,dass die im Septemberprogramm zusammengefaßten Kriegsziele nicht erst mit Kriegsbeginn aufgestellt wurden,sondern zum großen Teil Vorstellungen und Bestebungen aus der Vorkriegszeit aufgriffen.
Geschrieben hatte ich:
Die KriegszielPostulate vom September, im 2. Kriegsmonat, bilden keineswegs nachträglich die angeblich in Wirklichkeit schon lange vor Kriegsbeginn allseits vorhandenen, dominierenden und unweigerlich kriegsauslösenden und kriegstreibenden Motive ab.
Die SeptemberKriegsziele bildeten keineswegs durchweg oder mehrheitlich Vorstellungen ab, die schon in den Jahren vorher mit Hilfe eines Krieges erreicht werden sollten.

Die Einleitung des informellen Textes wohl aus Hand von Riezler bezieht sich deutlich auf die Kriegssituation des Dt. Kaiserreiches zwischen den beiden angrenzenden Großmächten.
1. Das allgemeine Ziel des Krieges:
Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit. Zu diesem Zweck muß Frankreich so geschwächt werden, dass es als Großmacht nicht neu erstehen kann, Rußland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden.
Die Berliner Reichsführungen antizipierten die möglichen Entwicklungen aus den allmählich wachsenden militärischen und militärstrategischen wie militärpolitischen Frontstellungen der beiden unmittelbar an Dt. Kaiserreich angrenzenden Großmächte im Westen wie im Osten, spätestens seit kurz nach der Jahrhundertwende.

Die informellen Kriegsziele aus der Hand von Bethmann/Riezler zeigen vor allem die Ideen, für die Zukunft eine Einzwängung/Bedrohung zwischen den beiden angrenzenden Großmächten dauerhaft zu unterbinden, und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Großmachtstellung des. Dt. Kaiserreiches im Vergleich vor allem zu Frankreich zu erhalten und auszubauen.
So konnte Wihlem Solf bei der Aufstellung eines Konzepts eines mittelafrikanischen Kolonialreiches auf vorbereitete Vorkriegspläne zurückgreifen.
Im Ritzler-Text Abschnitt 5 steht:

Die Frage der kolonialen Erwerbungen, unter denen in erster Linie die Schaffung eines zusammenhängenden mittelafrikanischen Kolonialreichs anzustreben ist, [...] werden später geprüft.
Die Alldeutschen und die großen Industrieverbände haben schon lange vor Kriegsbeginn Ziele formuliert wie sie dann im Septemberprogramm enthalten sind.
Der Alldeutsche Verband/Heinrich Claß formulierten Anfang September 1914 in einer eigenen Denkschrift ihre Kriegsziele. Anscheinend mit deutlichen Unterschieden zum angeblich alldeutsch mitformulierten Kriegsziel-Elaborat von Kurt Riezler.
andreassolar
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Michael Epkenhans, Der Erste Weltkrieg, 2015, notiert S. 200 u.a.,
Für die These [von Fritz Fischer], dass bestimmte Kriegsziele das Handeln des Kanzlers in der „Juli“-Krise beeinflusst hätten, gibt es schlichtweg keine Belege.
andreassolar
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Rainer F. Schmidt, Kaiserdämmerung (2021), betitelt den ersten Abschnitt von Kapitel 5, Die Außenpolitik der Wilhelminischen Ära 1890-1914, mit

Weichenstellungen ins Nirvana - Die ersten Schritte des neuen Kurses in der Außenpolitik (1890 bis 1896)


Schönes wie treffendes Bild, der erste Teil des Abschnittstitels.
Bernhard Sauer
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Es ist natürlich völlig richtig,dass das Handeln von Bethmann Hollweg in der Juli-Krise nicht maßgeblich von bestimmten Kriegszielen beeinflusst worden ist.Allerdings kann ich mich nicht erinnern,dass Fritz Fischer so etwas expliziert gesagt hat.In jedem Fall ist die Vorstellung,dass der Krieg entfacht wurde um Kriegsziele,wie sie später im September-Programm formuliert wurden,zu verwirklichen,eine völlig verkürzte Darstellung der wirklichen Ereignisse.Das Handeln des Kanzlers wie auch des Kaisers war äußerst unentschlossen und widersprüchlich.Ich habe dies ausführlich in meinem Buch dargestellt,ich muss es hier nicht wiederholen.Beide haben nicht zielgerichtet auf einen großen Krieg hingewirkt,um mit ihm bestimmte Kriegsziele zu erreichen.Sie haben recht,wenn Sie schreiben,dass die September-Kriegsziele nicht Vorstellungen abbildeten,die schon in den Jahren vorher mit Hilfe eines Krieges erreicht werden sollten.
Bethmann Hollweg und der Kaiser haben sich aber auch entschlossen gegen die Entfesselung eines Krieges gewandt.Sie hätten dazu Gelegenheit gehabt.Hätten sie unmißverständlich erklärt,dass sie unter keinen Umständen ein kriegerisches Vorgehen ihres österreichisch-ungarnischen Bundesgenossen gegen Serbien mittragen würden,hätte der Krieg verhindert werden können.Allein hätte Österreich-Ungarn keinen Krieg begonnen,zumal ja auch der ungarnische Ministerpräsident ausgesprochen unsicher war.
Als dann der Krieg da war,wurden nicht nur mit dem September-Programm weitreichende annektionistische Kriegsziele aufgestellt,wobei dabei auf Vorstellungen und Bestebungen aus der Vorkriegszeit zurückgegriffen werden konnte-derartige Ziele sind nicht plötzlich entstanden,sondern wurden mit dem Krieg aktualisiert und sollten nun verwirklicht werden.Damit gewann der Krieg deutlich den Charakter eines imperialen Eroberungskrieges.
Skeptik
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Die „Wahrheit“ paßt auf eine Postkarte:
https://www.akg-images.de/archive/-2UMDHUFBMS9P.html

https://www.spiegel.de/politik/majestae ... 0031548498
Im August 1914 rief er [der Kaiser] »Auf zu den Waffen«, ein Jahr später tönte er: »Vor Gott und Geschichte ist mein Gewissen rein. Ich habe diesen Krieg nicht gewollt.« Seinen Kanzler Bethmann Hollweg fragte er in einer stillen Stunde: »Nun sagen Sie mir bloß, wie ist dies alles gekommen?« Der gab zurück: »Ja, wer das wüsste!«

Das ist immer der Vorteil von Historikern: Sie wissen es!
Zuletzt geändert von Balduin am 25.08.2023, 19:24, insgesamt 1-mal geändert.
Grund: Aus urheberrechtlichen Gründen Zitat gekürzt
andreassolar
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Das 'Septemberprogramm' vom 9. September 1914 enthält jedenfalls keine speziell alldeutschen Wünsche/Forderungen/Formulierungen und unterscheidet sich erheblich, zumal Claß Denkschrift von Anfang September 1914 noch gar nicht an Bethmann gelangt war.

Claß schickte sie erst im Dezember 1914 als Druck u.a. an Bethmann, dieser ließ im Januar die restlichen Druckexemplare einziehen und anschließend eine Hausdurchsuchung bei Claß durchführen, als dieser sich nicht zur Verschwiegenheit über Kriegsziele verpflichten ließ.
Kaum etwas hat die Zeitgenossen so aufgewühlt und spätere Historiker so irritiert wie die Frage der Kriegsziele. Aus Sicht vieler Politiker und großer Teile der Bevölkerung aller Länder war der Krieg zwar ein Verteidigungskrieg; sobald dieser aber gewonnen war, sollte es jedoch „sicherer“ sein, in dem jeweiligen Land zu leben. „Sicherheit“ konnte dabei alles Mögliche bedeuten: kleinere Grenzkorrekturen, die temporäre bzw. dauerhafte Besetzung
strategisch oder ökonomisch wichtiger Gebiete des jeweiligen Gegners, die Verpflichtung, dem Sieger für die erlittenen Schäden und die entstandenen Kriegskosten Reparationen zu zahlen, Handelsvorteile zu gewähren, zahlenmäßige Beschränkungen hinsichtlich der Größe von Armee oder Flotte, aber auch die vollständige Zerschlagung von Staaten. Im Grunde gab es kaum eine Forderung, die nicht irgendwann von Regierungen, Militärs, politischen oder wirtschaftlichen Verbänden, Intellektuellen oder Phantasten welcher Couleur auch immer erhoben worden ist. Dies gilt im Grunde für alle Staaten.
Q: Michael Epkenhans, Der Erste Weltkrieg, 2015, S. 97.
andreassolar
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Bethmann Hollweg und der Kaiser haben sich aber auch entschlossen gegen die Entfesselung eines Krieges gewandt.Sie hätten dazu Gelegenheit gehabt.Hätten sie unmißverständlich erklärt,dass sie unter keinen Umständen ein kriegerisches Vorgehen ihres österreichisch-ungarnischen Bundesgenossen gegen Serbien mittragen würden,hätte der Krieg verhindert werden können.Allein hätte Österreich-Ungarn keinen Krieg begonnen,zumal ja auch der ungarnische Ministerpräsident ausgesprochen unsicher war.
D'accord... das ist natürlich hinlänglich bekannt & nicht strittig, meine ich.

Eine weiterführende Ergänzung scheint mir die Überlegung zu sein, dass die Berliner Entscheider sich im Laufe des Jahres 1914 verstärkt diplomatisch, politisch und strategisch isoliert bzw. abgehängt fühlten, so dass ÖU als einziger gesichert verlässlicher Verbündeter einen Bedeutungszuwachs erhielt, welcher ein Faktor oder einer der Gründe darstellte, warum sich Berlin im Juli 1914 für den riskanten Beistandsweg zugunsten ÖU's entschied.

Dass sich Franz Ferdinand und KWII anscheinend gut verstanden, befreundet waren und sich erst kurz vor dem Attentat getroffen hatten, hat sicherlich auch ein Quäntchen dazu beigetragen.

Die Spionagetätigkeiten Benno von Sieberts und die von ihm übermittelten Abschriften, Kenntnisse, siehe die GB-russischen Marinegespräche, waren ja nur 5 Personen in Berlin bekannt - der Kaiser gehörte nicht dazu, Bethmann aber, dessen zu weitreichenden Schlussfolgerungen in der Wirkung auf Bethmann via Riezler gut überliefert wurde.

Seit ca. März 1914 vermeinte Bethmann wohl zu erkennen, dass sich die britische Administration mehrheitlich doch nicht in die von Bethmann stimulierte und erhoffte, wenige Monate vorher noch vorhergesagte Annäherung/Verständigung bewegen ließ.

Stephen Schröders Die englisch-russische Marinekonvention (2006) bietet dazu gute Grundlagenarbeit, meine ich.
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