- Vereinigung Deutschlands wird begleitet vom Austritt aus NATO & WP, zumindest aus deren militärischer Organisation
- geeintes Deutschland bleibt Mitglied in beiden Militärbündnissen, die zugleich möglichst eine Auflösung oder tiefe Transformation anstreben
Eine Dauermitgliedschaft des geeinten Deutschland in beiden Bündnissen war damit also keinesfalls (mehr) gemeint, hatte Gorbi Kohl am 10.2.90 gegenüber entsprechend klar als unseriös bezeichnet.
Dass die angebliche Zusage einer Nicht-Ausdehnung der (militärischen) NATO auf DDR-Gebiet, immer verbunden mit der NATO-Mitgliedschaft eines Gesamtdeutschland, in keinem Fall von der sowjetischen Seite
- als Zusage
- verbindliche, gemeinsame Erklärung usw.
SPIEGEL:
Sie sie auch unvereinbar mit der von Herrn Genscher entwickelten These, das halbe Deutschland solle in der NATO bleiben?
Falin:
Wären diese Varianten akzeptabel, die Herr Genscher und Herr Bush formulierten, könnten wir uns vice versa die Entwicklung auch so vorstellen: Ein ganzes Deutschland oder die eine Hälfte ist ein Teil des sowjetischen Sicherheitssystems. Das wäre auch ein Versuch,, Deutschland zu binden und es daran zu hindern, einen Alleingang zu riskieren. Da würden sie uns sicher sagen: nein, das geht nicht. Wenn sie dem anderen aber zumuten gutzuheißen, was sie selbst nicht zu akzeptieren bereit sind, ist das keine korrekte Haltung. [...]
SPIEGEL:
Denken sie denn, daß eine Gefahr von deutschem Boden ausgeht, wenn ein Teil Deutschlands in der Nato bleibt?
Falin:
[...] Wenn heute in einem Teil Deutschlands die militärische Institution - egal, wie sie genannt wird - weiterexistiert und die im anderen Teil verschwindet, wird das Gleichgewicht der Interessen verletzt. Dann, bitte sehr, sind die Folgerungen klar.
Hier wird nochmals deutlich, die wichtigste Positionierung Genschers in Tutzing war die erstmals ausdrücklich von einem bundesdeutschen politischen Entscheidungsträger öffentlich postulierte Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland in der NATO, und der Verbleib der militärischen Strukturen der NATO auf dem BRD-Gebiet. Die Idee einer Nicht-Ausdehnung der militärischen NATO-Strukturen auf DDR-Gebiet war damit unisono für die sowjetische Seite uninteressant, inakzeptabel.
Das verdeutlichen auch entsprechende Bemerkungen Schewardnadses im Gespräch mit Genscher in Windhoek, Namibia, am 22. März 1990, u.a.:
Schewardnadse:
[...] Dann gebe es noch die Idee des BM [Bundesminister; = Genscher], daß die NATO ihr Gebiet nicht ausdehne. Er halte diesen Gedanken gegenwärtig nicht für eine aussichtsreiche Überlegung. Unter Umständen sei es vielleicht auch angezeigt völlig neue, unkonventionelle Lösungen in Erwägung zu ziehen. [...]
Q: Andreas Hilger (Hrsg.), Diplomatie für die deutsche Einheit (2011), S. 116.
Auch später wurde von sowjetischer Seit diese Idee praktisch nie aufgegriffen, akzeptiert, thematisiert, sie wurde, wie gezeigt, als Idee, als Gedanken, als Formulierung bezeichnet.
Die vermeintlichen Ungereimtheiten bei Genscher
Zu den nachträglich im Neuen Narrativ ebenfalls immer wieder unterstellten 'Ungereimtheiten' gehört u.a. die Mär, Genscher habe in der Tutzinger Rede am 31.1.90 nicht nur die Nicht-Ausdehnung der NATO auf DDR-Territorium 'versprochen', sondern damit auch die sicherheitspolitische Nicht-Integration des DDR-Gebietes unter den Schutzschirm der NATO entsprechend dem Beistandsartikel 5 der NATO-Konvention von 1949.
- Das habe Genscher später etwa in seinen Erinnerungen (1995) fälschlicherweise geleugnet
- und/oder der Nationale Sicherheitsrat der US-Administration bzw. zwei Mitglieder des Sicherheitsrates bei genauer Prüfung der 'Tutzinger Formel' erkannt, die Genscher bei seinem Besuch am 2. Februar 1990 in Washington US-Außenminister Baker zumindest in groben Zügen vermittelt habe, nach Genscher Abreise. Und entsprechend reagiert, u.a. mit einem korrigierenden Brief von Präsident Bush an Bundeskanzler Kohl.
Innerhalb der NATO in Brüssel war das offenkundig auf Führungsebene jedem klar. Genauso war offenbar allen klar, dass die Genscher-Formel militärisch ein großer Gewinn für die NATO wäre, auch mit einer Nicht-Ausdehnung der militärischen Strukturen der NATO auf DDR-Gebiet. Denn in NATO-Hauptquartier war anscheinend genauso evident, dass die sowjetische Armee in der DDR entlang der Genscher-Formel nicht mehr verbleiben konnte, unabhängig davon, dass sie vielleicht erst in wenigen Jahren vollständig abgezogen sein könnte.
Das zeigt jedenfalls der abgedruckte Bericht des bundesdeutschen NATO-Botschafters in Brüssel, von Ploetz, vom 9.2.90, ausdrücklich mit Bezug auf Genschers Tutzinger Rede. (Q: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1990 (2021), S. 136-139):
So notiert der Bericht u.a. (S. 137 f.), die von Genscher vorgenommene Differenzierung zwischen der Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands zu Allianz und damit zur kollektiven Verteidigungszusage der NATO für das Gesamtterritorium, und einer Nichterweiterung der Militärorganisation der NATO werde als vielversprechend angesehen, weil sie einen grundsätzlichen sicherheitspolitischen Statusunterschied vermeiden würde.