Die Sowjetunion, die 2+Vier-Verträge & NATO-Osterweiterung

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Moderator: Barbarossa

andreassolar
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Die aktuell wiederholt auflebende Diskussion um mögliche verbindliche Zusagen 'westlicher' Entscheidungsträger bzw. von Regierungschefs und Regierungsangehörigen der drei westlichen Alliierten, den früheren westlichen Siegermächten über das besiegte NS-Deutschland, gegenüber den Führungsspitzen der sowjetischen Regierung in den Begegnungen und Treffen besonders im Rahmen der Gespräche und Diskussionen, Erörterungen und Verhandlungen zur Zukunft der beiden deutschen Staaten über eine Nicht-Erweiterung der NATO nach Osten, zeigt einmal mehr, dass substanzielle historische bzw. geschichtswissenschaftliche Kenntnisse eine gute Grundlage bieten, die damaligen komplexen Situationen und Entwicklungen differenziert zu verstehen und darstellen zu können.

Für einen Zeitgenossen jener Jahr überraschen gewisse Darstellungen zum Thema, die seit Jahren wiederholt, neu vertieft und aufgerollt werden, mit auffallenden Lücken zum damaligen Kontext, gerne verbunden mit unilateralen Sichtweisen.

Eine wissenschaftlich fundierte, immer noch gültige Übersicht zum Thema möglicher Zusagen zur Nichterweiterung der NATO gegenüber der sowjetischen Führung und zur Entwicklung der Jahre danach bietet die Veröffentlichung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages mit dem Titel

Zur öffentlichen Diskussion über Anfang der 1990er Jahre möglicherweise getroffene Zusagen westlicher Spitzenpolitiker zu einem Verzicht auf eine NATO-Osterweiterung.

Abschlussdatum 18. Februar 2016.

Auszüge davon nachfolgend:
[...]
Auch der am 12. September 1990 unterzeichnete Zwei-plus-Vier-Vertrag selbst enthält keine Regelung, die der NATO eine über die DDR hinausgehende Ausdehnung nach Osten untersagt. Die Artikel 5 und 6 enthalten ausschließlich Aussagen zur Möglichkeit der Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in einem Bündnis sowie zur Stationierung deutscher Streitkräfte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. In Artikel 6 heißt es zur Bündnisfrage: „Das Recht des vereinten Deutschland, Bündnissen mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten anzugehören, wird von diesem Vertrag nicht berührt.“

Damit hatte Russland explizit einer NATO-Osterweiterung um das Gebiet der ehemaligen DDR zugestimmt, auf dem nach dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte (nur) Deutschland eigene NATO-assignierte Streitkräfte, aber keine Kernwaffen stationieren durfte, wie Absatz 3 des Artikel 5 ausführt: „Nach dem Abschluss des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet der heutigen Deutschen Demokratischen Republik und Berlins können in diesem Teil Deutschlands auch deutsche Streitkräfteverbände stationiert werden, die in gleicher Weise militärischen Bündnisstrukturen zugeordnet sind wie diejenigen auf dem übrigen deutschen Hoheitsgebiet, allerdings ohne Kernwaffenträger.“

Eine Thematisierung der NATO-Osterweiterung über die DDR hinaus, deren Nationale Volksarmee mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland aus dem Warschauer Pakt herausgelöst worden war, erfolgte in diesem Vertrag aufgrund der noch bestehenden Bündnisstrukturen in Osteuropa nicht. Da mit Ausnahme der DDR das östliche Bündnis noch weiter fortbestand, war der Beitritt weiterer Staaten der östlichen Hemisphäre zur NATO zu diesem Zeitpunkt jenseits jeglicher Imagination und daher Regelungen zur Rechtmäßigkeit einer dauerhaften Truppenstationierung auf dem Gebiet solcher Länder nicht Bestandteil des Zwei-plusVier-Vertrages.

Erst mit der Auflösung des Warschauer Paktes am 1. Juli 1991 und der Sowjetunion am 26. Dezember 1991 und den sich daraufhin anschließenden Diskussionen über eine künftige europäische Sicherheitsarchitektur gelangte das Thema einer über Gesamtdeutschland hinausgehenden Expansion der NATO nach Osten wieder verstärkt auf die Tagesordnung. Zwar war das Bündnis auf der einen Seite an einem Ausbau der Kooperation mit Russland interessiert. Auf der anderen Seite verstand man allerdings auch die Interessen der osteuropäischen Staaten, die mit dem Wunsch nach langfristiger territorialer Sicherheit und wirtschaftlicher Prosperität auf eine Integration in westliche Strukturen (NATO, EU) drängten.

Die Notwendigkeit einer Einbindung der ost- und mitteleuropäischen Staaten zur Stabilisierung Europas sah vor dem Hintergrund des jugoslawischen Bürgerkrieges und der labilen Situation in Russland insbesondere auch die amerikanische Regierung unter Bill Clinton. Dennoch zeigte sie sich „mit Rücksicht auf die Isolations- und Einkreisungsängste Moskaus“ mit konkreten Erweiterungsplänen anfänglich zurückhaltend.11 Daher entschied sie sich zunächst dafür, die Verbindung mit den osteuropäischen Staaten durch das „Partnership for Peace“-Programm (PfP-Programm) zu stärken, zu dem während des NATO-Gipfels in Brüssel vom 10 – 11. Januar 1994 der Startschuss gegeben wurde und dem u.a. zahlreiche Staaten aus dem Vertragsgebiet des ehemaligen Warschauer Paktes und auch Russland selbst (am 22. Juni 1994) beitraten. In seiner Rede zur Auflegung des PfP-Programms versicherte Clinton am 10. Januar 1994, dass es nicht der Wille der USA sei „[…] jetzt eine neue Trennlinie durch Europa [zu] ziehen, halt nur ein wenig weiter östlich“, und damit den europäischen Friedensprozess zu gefährden. So wurde den osteuropäischen Beitrittskandidaten ohne Festlegung eines genauen Zeitplans lediglich eine zukünftige Aufnahme in die NATO in Aussicht gestellt. Eine engere Kooperation mit Russland wurde dennoch weiterhin nicht ausgeschlossen.
Im Laufe des Jahres 1994 wuchs dann allerdings in den USA der politische Druck auf Präsident Clinton, die NATO-Osterweiterung zügig voranzutreiben. So drängte der republikanisch dominierte Kongress mit dem „NATO Expansion Act“ am 14. April 1994 und dem „NATO Revitalization Act“ am 11. Mai 1994 auf einen Zeitplan zur raschen Aufnahme neuer NATO-Mitgliedstaaten. Clintons Ankündigung am 1. Juli 1994, im Jahre 1995 Standards und einen Zeitplan für die Osterweiterung auszuarbeiten, zeigte ebenso wie seine Aussage, dass die NATO seiner Meinung nach aus sicherheitspolitischen Gründen

„erweitert werden wird, und erweitert werden sollte“,

dass er dem innenpolitischen Druck nachgegeben hatte. Gleichzeitig versicherte er allerdings in einem Gespräch mit dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin am 27. September 1994, die amerikanische Politik lasse sich von den

„three no’s“ leiten: „no surprises, no rush and no exclusion.“

Diese Aussage gegen eine schnelle Aufnahme neuer NATO-Mitglieder und für die Möglichkeit eines Einschlusses Russlands in eine künftige europäische Sicherheitsarchitektur ist möglicherweise von russischer Seite missverstanden worden.​
[...]

Das historisch-wissenschaftlich zutreffende Fazit der Arbeit:
3. Fazit
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in einem frühen Stadium der Gespräche zur deutschen Einheit im Rahmen der Verhandlungsdiplomatie zwar Äußerungen getätigt worden waren, die auf eine mögliche Bereitschaft der NATO zum Verzicht auf eine Ostausdehnung hätten schließen können. Diese Äußerungen entfalteten aus völkerrechtlicher Sicht nach Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrages am 15. März 1991 allerdings keine Bindungswirkung.

Der sowjetischen Führung hätte damals – darüber besteht in der Politikwissenschaft weitgehende Übereinstimmung – bereits klar sein müssen, dass mit den betreffenden Äußerungen eine völkerrechtlich verbindliche Zusage zu einem Verzicht auf eine NATO-Osterweiterung nicht vorgelegen hat, zumal diese sowohl im Fortgang der Zwei-plus-Vier-Gespräche nicht aufrechterhalten als auch nach der deutschen Wiedervereinigung von entscheidenden westlichen Politikern explizit nicht wiederholt wurde. 18 Vielmehr unterstrichen verschiedene westliche Spitzenpolitiker mit ihren Aussagen im Wesentlichen nur, dass russische Sicherheitsinteressen bei der Bündnisexpansion berücksichtigt werden müssten. Diese sah die NATO durch die verschiedenen Phasen ihrer Osterweiterung nicht eingeschränkt, u.a. deshalb, weil sie Russland stets zur Zusammenarbeit einlud und hierfür verschiedene Kooperationsformate (z.B. das PfP-Programm oder der Gemeinsame Ständige NATO-Russland-Rat 19) entwickelte und weiterentwickelte.​
Wann man davon absieht, dass im Text gelegentlich 'Russland' geschrieben wird, wo die Sowjetunion gemeint ist....und andere Kleinigkeiten...
andreassolar
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Die labile Situation in Russland unter Yeltsin wird häufig vergessen und nachträglich übersehen. Bei den Duma-Wahlen 1993 wurde die rechtspopulistische, nationalistische LDPR deutlich die stärkste Partei, bei den Duma-Wahlen 1995 deutlich die sowjetsozialistische KPRF - im September/Oktober 1993, wenige Wochen vor den Duma-Wahlen, war es zum Machtkampf zwischen Yeltsin und dem Kongress der Volksdeputierten der RSFSR gekommen, den Yeltsin in tagelangen, gewaltsamen Kämpfen zu seinen Gunsten beendet.
Und endgültig nach der Duma-Wahl, mit der wieder erschaffenen (Staats-)Duma, im Dezember 1993 mit dem Sieger Schirinowski gab in vielen mittel- und osteuropäischen Staaten gewisse Überlegungen, welchen Weg Russland einschlagen werde - hin zum alten russischen Imperium? Das wurde nach der Duma-Wahl 1995 mit dem Sieg der sowjetsozialistischen KPRF eben nicht besser - hin zum alten sowjetischen Imperium? Yeltsin war seit 1995 wohl erkennbar 'eingeschränkt'.

Als Beispiel für die Situation damals Anfang 1994,
  • nach gewaltsamer wie blutiger Lösung des Verfassungskonfliktes zwischen Yeltsin und dem Kongress der Volksdeputierten der RSFSR im Herbst 1993
  • nach der Staatsduma-Wahl Anfang Dezember 1993 mit dem Wahlerfolg der nationalistischen, rechtspopulistischen LDPR unter Führung von Schirinowki
  • nach Inkrafttreten der neuen Verfassung Russlands Ende Dezember 1993 mit einer umfassenden, kaum noch kontrollierbaren Präsidentenstellung

notiert ein SPIEGEL-Artikel vom 9.1.1994, "Die Knute zeigen" in der Einleitung:
Die wilden Sprüche und Drohungen des Rechtsradikalen Schirinowski haben dem Westen die neue Gefahr vor Augen geführt, die von Moskau ausgehen kann. Osteuropäische Staaten verlangen den sofortigen Beitritt zur Nato - den die Allianz nicht gewähren will, um Rußlands Nationalisten nicht zu provozieren.​
Und im Artikel u.a. weiter:
[...]
In den Strudel ja nicht wieder hineingezogen zu werden, ist nach dem Schirinowski-Wahlerfolg das hektische Bestreben aller Nachbarn des taumelnden Riesen Rußland. Den Eiseshauch aus dem Osten im Nacken, drängen sie auf einen warmen Platz unter dem Schutzschild der Nato.

Litauen stellte in der vergangenen Woche als erste ehemalige Sowjetrepublik einen offiziellen Aufnahmeantrag. Die Begehren Polens, Tschechiens, Ungarns und der Slowakei nach Ausstellen der Mitgliedsurkunde liegen vor.
Die Allianz aber, in die so viele hineinwollen, ist nicht geschmeichelt, sondern verunsichert. Vor ihrem Gipfeltreffen in Brüssel befand sie sich in einem strategischen Dilemma:
Einerseits möchte sie vermeiden, daß Rußland ausgegrenzt und in den Status eines potentiellen Feindes zurückversetzt wird. Andererseits kann sie nicht stillschweigend eine Art neues Jalta zulassen und die Staaten Osteuropas, die gerade ihrem Satellitendasein entronnen sind, erneut in die Einflußsphäre des übermächtigen Nachbarn im Osten stoßen.

Eine Erweiterung des Bündnisses würde bedeuten, die Garantie von Artikel 5 des Nato-Vertrags auch auf die Neuen auszudehnen - die automatische Beistandspflicht aller Mitglieder im Falle eines Angriffs auf einen von ihnen.
US-Präsident Clinton ist dazu nicht bereit und bekäme im Kongreß auch keine Mehrheit dafür. Und die Westeuropäer können den Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn keine Sicherheit ohne die Amerikaner versprechen, selbst wenn sie es wollten.

In diesem Zwiespalt hat sich die Allianz in die verlockende Idee »Partnerschaft für den Frieden« geflüchtet: Anbindung der ehemaligen Ostblockstaaten an die Nato ohne sofortige Mitgliedschaft. Verbittert interpretieren die Abgewiesenen die dehnbare Formel als verschämten Kniefall vor Jelzin, der aber den Herrn im Kreml nicht besänftigen, sondern die imperialistischen Gelüste erst recht verstärken werde.
[...]

Und die Partnership for Peace, PfP, der NATO hat im Laufe der Jahre teils eine märchenhaft wirkende Karriere zurück gelegt hinsichtlich der nachträglichen, unilateralen Deutung...


Ebenfalls bei der Bundeszentrale für politische Bildung kann von Gorbi-Biograph Ignaz Lozo der Artikel NATO-Osterweiterung: Die Legende von gebrochenen westlichen Versprechen vom 29. November 2021 online aufgerufen werden.

In konventioneller Druckausgabe findet man eine dicht belegte, geschichts- und politikwissenschaftliche Publikation von 1998, die alle entscheidenden Punkte, Entwicklungen und Veränderungen im Detail akribisch nachzeichnet unter dem Titel
  • Werner Weidenfeld u.a., Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/1990, Stuttgart 1998.
andreassolar
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Empfehlenswert sind immer gute Kenntnisse der Grundlagenliteratur, hier die Quelleneditionen zum großen Rahmen der deutschen Einheit, in welchen auch vielfach und besonders um die NATO diskutiert, gestritten und gerungen wird; zwei einschlägige Quelleneditionen stellen dar
  • Werner Weidenfeld u.a., Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998, 952 Seiten.
  • Galki/Tschernjajew, Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986-1991. München 2011, 640 Seiten. (zunächst in limitierte Auflage 2006 in Moskau erschienen)
Gerne möchte ich nochmals darauf hinweisen, dass Anfang Februar 1990 gemeinhin die zeitlichen Vorstellungen über die Entwicklung hin zu einer wie auch immer gearteten deutschen XXXX von ganz verschiedenen Modellen ausgingen. Weder die französische noch die britische Regierung befürworteten einen wie auch immer aussehenden Zusammenschluss beider dt. Staaten, das war in Rom nicht anders. Kohl ging Anfang Februar noch davon aus, dass es erst eine Zusammenarbeit, dann eine Art 'Konföderation' geben könnte, und danach vielleicht eine Art Einheit 1992/1993.

Dies und die sich dann rasant beschleunigende Entwicklung auf vielen Gebieten, besonders auch nach dem Volkskammerwahlen am 18. März 1990 in der DDR mit dem deutlichen Sieg der 'Allianz für Deutschland' und der Ablösung der Modrow-Administration, sind im Detail beispielsweise in den Quelleneditionen nachvollziehbar und die Basis für wissenschaftlich ausreichend differenziert dargestellte historische Kontexte, welche aktuell und um so mehr, um so länger zurückliegend, gelegentlich etwas unterbelichtet bleiben und die in m.E. für Einsteiger und NichthistorikerInnen plausibel klingenden, doch mehr spekulativen, verkürzenden Darstellungen ein zu vereinfachendes Bild offerieren.

Weithin ist es hilfreich, sich zu verdeutlichen, dass die damalige Sowjetführung außer den Besatzungsrechten in Berlin als einzigen Faustpfand die unfreiwillige Mitgliedschaft der DDR in der WVO aufbieten konnte, um eine allzu rasche oder unerwünschte deutsche Einheit bzw. eine unerwünschte Form des Zusammenschlusses zu verhindern bzw. zu verschleppen.

Und der WVO-Zwangsmitgliedschaft fehlte damals zusehends und auf Dauer die legitimatorische Basis und im Rahmen der KSZE-Schlussakte gab es damals defacto wie völkerrechtlich auf Dauer gar keine Möglichkeit, den wie auch immer gearteten Beitritt oder Zusammenschluss beider Deutschland zu verhindern, ebenso ihre vielleicht dann nicht völlig, aber ausreichend souveräne, selbst bestimmte Entscheidung für den Beitritt zu einem Militärbündnis. Ausnahme Berlin.

Weiterhin ist es nützlich und wissenschaftlich unabdingbar, sich die so genannte Grundakte NATO-Russland vom Mai 1997 anzuschauen....und vielleicht auch mal den 2+4-Vertrag vom 12.9.90.....
andreassolar
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Entlang des Themas dieses Fadens geht es in diesem Beitrag erneut um vermeintliche Versprechen/Täuschung der Moskauer Führung bzw. ein vermeintlicher, gewisser Bruch mit diplomatischen Gepflogenheiten, besonders auf der Ebene zwischen Moskau und Washington D.C. wegen der schon genannten, nicht abgesprochenen Äußerungen von US-Außenminister Baker am 9. Februar 1990 in Moskau oder auch Genschers Ende Januar 1990, allesamt vor Beginn des gemeinsamen Beschlusses der Außenminister der beiden Deutschland sowie der Vier Mächte in Ottawa am 13.2.1990, in den 2+4-Konferenzen die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit sowie Sicherheitsfragen der Nachbarn zu erörtern, gefallen.
Erneut sei auf diverse Literatur aus den 1990ern hingewiesen, die nochmals wissenschaftlich valide belegen kann, dass die sowjetische Führung sich keineswegs getäuscht sah und auch keinen Bruch mit gewissen diplomatischen Gepflogenheiten von Seiten der US-Administration erkannte, was die vermeintliche 'Zusage' Bakers von Anfang Februar 1990 betrifft.

Wie schon mehrfach angesprochen, lies sich stets und lässt sich immer noch luzide, dicht und substanziell belegen - dass sowohl die Vorgespräche wie die Hauptverhandlungen der 2-4-Konferenzen wie auch sonstigen Positionierungen beispielsweise der US-Regierung seit Mitte-Ende Februar 1990 gegenüber der sowjetischen Führung stets die Mitgliedschaft der BRD und eines kommenden geeinten Deutschlands in der NATO betonten. Da gab es keine 'Täuschungen'. Genauso wenig wurde in diesem Rahmen etwa eine Grundsatzentscheidung getroffen/gemeinsam oder wiederholt oder abgestimmt formuliert zu einem expliziten Verzicht auf eine sonstige 'NATO-Osterweiterung'.
Speziell Bush sr. hatte als US-Präsident immer die Notwendigkeit der Nato-Mitgliedschaft Deutschlands postuliert.

Entsprechend fehlten und fehlen nach wie vor in den nachfolgend aufgeführten Publikationen aus den 1990ern alle wissenschaftlich substanziellen Belege für eine 'Täuschung' oder einen 'Bruch mit gewissen Spielregeln' zu Lasten der erkennenden sowjetischen Führung durch die vermeintlichen 'Zusagen' von Ende Januar/Anfang Februar 1990 durch Baker/Genscher etc.
  • Valentin Falin, Konflikte im Kreml, 1997
  • Valentin Falin, Politische Erinnerungen, 1993
  • Julij Kwizinskij, Vor dem Sturm. Erinnerungen eines Diplomaten, 1993
  • Thesen des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik [Russland], Rußland und die NATO, in: August Pradetto (Hrsg.), Ostmitteleuropa, Rußland und die Osterweiterung der NATO, 1997, S. 161-177.
Wissenschaftliche Publikationen:
  • Boris A. Schmeljow, Ist Rußlands Nein endgültig?, in: Wolfram Wallraf (Hrsg.), NATO-Osterweiterung: Neue Mitglieder für ein Bündnis im Wandels?, 1996, S. 139-152 (Internationaler Workshop am 28./29. Juni 1996 in Potsdam, Truman-Haus, Konferenzbeiträge)
  • Aleksandr Galkin und Anatolij Tschernjajew (Hrsg.), Michail Gorbatschow und die deutsche Frage 1986–1991. Sowjetische Dokumente, 2011 (deutschsprachige und kommentierte Ausgabe des russischen Originals von 2006, Moskau).
Tschernjajew war der langjährige sicherheitspolitische Berater von Gorbatschow bis zu dessen Amtsende gewesen.

Der Schwerpunkt der Titel liegt bei russo-sowjetischen Autoren bzw. sowjetischen/russischen Positionen, welche allesamt keine substanziellen, wissenschaftlich ausreichenden Anhaltspunkte und Belege liefern für damals von sowjetischer Seite angenommenen 'Täuschungen' oder 'Bruch mit gewissen Spielregeln' Ende Januar/Anfang Februar 1990 durch 'westliche' Politiker, eigentlich Baker und Genscher.

Sowohl Tschernjajew wie auch die 'Sowjetischen Dokumente' enthalten selbstredend reichlich dokumentierte Interna. So wie die Titel von Kwizinskij und Falin sie aus der Sicht der beiden auch in der BRD tätig gewesenen sowjetischen Diplomaten/Botschafter enthalten.

Empfehlenswert sind begleitend zahllose SPIEGEL-Artikel jener turbulenten, zeitweise hektischen und gespannten Phase von Dezember 1990 bis zur Unterzeichnung des 2+4-Vertrages am 12.9.1990 in Moskau.
andreassolar
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Diplomatische Gepflogenheiten:
  • wichtige Treffen werden i.d.R. von den Regierungschefs samt den Fachministern bestritten
  • wichtige Übereinstimmungen werden stets durch Formeln wie A: 'ich ziehe mal ein Resümee, aus meiner Sicht, unserer Gespräche/unseres Gespräches...', 'ich ziehe mal einen Zwischenstand, aus meiner Sicht, ....'
  • und der expliziten Bestätigung der Richtigkeit der Wiedergabe des Gesprächsverlaufes durch B festgehalten, B wird die Bestätigung meist mit begleitenden Worten und vielleicht Erläuterungen versehen, ggf. korrigieren oder verwerfen
  • wichtige Übereinstimmungen werden in aller Regel wenig später gleichen Tages vor der Presse gemeinsam bekannt gegeben
  • üblicherweise darf hier die eingeladene Partei, hier A, zuerst die Ergebnisse aus ihrer Sicht darstellen
  • spätestens hier kann die einladende Partei, hier B, nach den Erklärungen von A die aus Sicht von B nicht vollständigen, nicht ganz zutreffenden vermeintlichen Übereinstimmungen, die Abweichungen explizit zu den Erklärungen von A aussprechen, thematisieren. Tut das B nicht, gilt das als Zustimmung.
  • Diese übereinstimmenden und/oder von der anderen Seite nicht weiter ergänzten oder korrigierten Erklärungen gelten als diplomatische Zusage und stellen wiederum (nur) bedingt ein völkerrechtliches oder bilaterales, vertragliches Abkommen dar.

Selbstverständlich fehlen alle diese Merkmale der diplomatischen Gepflogenheiten bei der vermeintlichen Zusage Bakers gegenüber Gorbatschow.
Daher wird die vermeintliche, in neuester Zeit als 'Zusage' kolportierte Äußerung Bakers vom 9.2.1990 in Moskau in der sowjetischen Literatur bzw. in den (russischen) Publikationen über die sowjetische Zeit aus den 1990er Jahren nirgends referiert. Siehe die oben angeführte Literatur.

Für Einsteiger lohnt sich die Lektüre der Quellenedition
  • Aleksandr Galkin und Anatolij Tschernjajew (Hrsg.), Michail Gorbatschow und die deutsche Frage 1986–1991. Sowjetische Dokumente, 2011 (deutschsprachige und kommentierte Ausgabe des russischen Originals von 2006, Moskau),
da sie zeigt, wie viele Gespräche Gorbatschow bzw. die Gorbatschow-Administration allein in der ersten Hälfte des Februar bzw. im Februar 1990 insgesamt mit 'westlichen' Regierungsvertretern führte - und dass in keinem weiteren Gespräch dieser Zeit Bakers vermeintliche Zusage referiert wird und kein weiterer 'westlicher' Vertreter sie wiederholt oder gleichbedeutende Äußerungen kommuniziert hat oder als diplomatische Zusage wertbares Ergebnis eines Gespräches herbei geführt hat. Auch in den nachfolgenden Wochen und Monaten wird Bakers vermeintliche Zusage nicht referiert.
andreassolar
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Natürlich gehört die Recherche der Entstehung und Geschichte dieser Legendenbildung zum Grundwerkzeug/Handwerkszeug substanzieller wissenschaftlicher Arbeit.
Die russo-sowjetische Legendenbildung über vermeintlich gebrochene Versprechen bei den 2+4-Verhandlungen oder womöglich auch davor, setzt in der zweiten Hälfte der 1990er Jahren ein. So auch meine ungefähre Erinnerung.


So wird in der wissenschaftlichen Arbeit Ist Rußlands Nein endgültig? von Boris A. Schmeljow, dem früheren Vizedirektor der Diplomatenakademie des sowjetischen Außenministeriums, bei Publikation der Arbeit 1996 als Professor am Institut für Weltwirtschaft und Politische Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften (Moskau) tätig, bei seiner Darstellung der Position entscheidender, bedeutsamer gesellschaftlicher und politischer Akteure bzw. Gruppierungen, Parteien und Institutionen in Rußland zu einer möglichen NATO-Ostererweiterung noch nirgends ein gebrochenes Versprechen oder Ähnliches im bekannten Kontext erwähnt, angeführt.

Schmeljows Text enthält auch einen Abriss der Entstehung der NATO-Skepsis bzw. NATO-Feindschaft in Russland.
Dieser beginnt mit der Billigung polnischer NATO-Beitrittswünsche durch Jelzin bei einem Staatsbesuch in Polen im August 1993, die - zusammen mit Jelzins Idee einer umfassenden Kompetenz der OSZE - bei den politischen Eliten Russlands Ablehnung und Widerstand hervor ruft. Die Duma-Wahlen danach im Dezember 1993 mit dem Sieg der NATO-feindlichen Parteien der Nationalisten um Schirinowski und der Kommunisten um Sjuganow verstärken und belegen die Entwicklung und Formierung der NATO ablehnenden Kräfte in Russland. Die Jelzin-Administration reagiert auf beides mit einer zunehmenden erklärten Distanz zur NATO und vor allem Ablehnung der den nach den russischen Dumawahlen 1993 mit dem Sieg der populistischen Nationalisten und den orthodoxen Kommunisten im östlichen Europa deutlich stärker werdenden NATO-Erweiterungswünschen. Das ist der binnenrussische Ausgangspunkt.

Q: Boris A. Schmeljow, Ist Rußlands Nein endgültig?, in: Wolfram Wallraf (Hrsg.), NATO-Osterweiterung: Neue Mitglieder für ein Bündnis im Wandel?, Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, Potsdam 1996, S. 139-152 (Internationaler Workshop am 28./29. Juni 1996 in Potsdam, Truman-Haus, Konferenzbeiträge). Schmeljows Paper ist offenkundig 1995 bis Ende 1995 entstanden.


Eine erste Erwähnung der Legende fand ich in A New Iron Curtain von Anatol Lieven in: The Atlantic, Januar 1996, der britische Politikwissenschaftlicher notiert u.a:
The reasons for Russian opposition are twofold: In the first place, NATO expansion is seen as a betrayal of clear though implicit promises made by the West in 1990-1991, and a sign that the West regards Russia not as an ally but as a defeated enemy. Russians point out that Moscow agreed to withdraw troops from the former East Germany following unification after NATO promised not to station its troops there. Now NATO is planning to leapfrog over eastern Germany and end up 500 miles closer to Russia, in Poland.
(übersetzt mit deepl:
Die Gründe für die russische Ablehnung sind zweierlei: Erstens wird die NATO-Erweiterung als Verrat an den eindeutigen, wenn auch impliziten Zusagen des Westens aus den Jahren 1990-1991 angesehen und als Zeichen dafür, dass der Westen Russland nicht als Verbündeten, sondern als besiegten Feind betrachtet. Die Russen weisen darauf hin, dass Moskau nach der Wiedervereinigung zugestimmt hat, seine Truppen aus der ehemaligen DDR abzuziehen, nachdem die NATO versprochen hatte, dort keine Truppen zu stationieren. Jetzt plant die NATO, Ostdeutschland zu überspringen und 500 Meilen näher an Russland zu landen, nämlich in Polen.)​

Eine Mitgliedschaft Russlands selber in der NATO wurde dort wiederum keineswegs abgelehnt.
Die Aussichten: Wladimir Wladimirowitsch hatte obige russische Legende/Behauptung zunächst nicht übernommen, zu eigen gemacht und kommuniziert, problematisiert. So beispielsweise u.a. beim Deutschland-Besuch im September 2001, in den USA usw. 1999 waren Polen, Ungarn und Tschechien der NATO beigetreten, beim NATO-Gipfel in Washington im April 1999 wurde ein Aktionsplan gebilligt:
Auf dem Washingtoner Gipfel haben die Staats- und Regierungschefs der NATO einen Aktionsplan zur Mitgliedschaft (MAP) gebilligt, um das Bekenntnis der NATO zur Offenheit der Allianz zu bekräftigen. Wir haben heute einen Bericht über die bisherige Umsetzung dieses Aktionsplans entgegengenommen. Wir freuen uns, dass dieser Prozess gut angelaufen ist und auf positive Resonanz bei den n e u n beitrittswilligen Ländern gestoßen ist. Diese Länder haben nationale Jahresprogramme vorgelegt, die die Allianz in die Lage versetzen, ihnen bei ihren Vorbereitungen auf eine mögliche zukünftige Mitgliedschaft direkte Beratung, Rückkopplung und Unterstützung zuteil werden zu lassen.
Hervorhebung von mir. Die n e u n Staaten waren: Albanien, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Nordmazedonien, Rumänien, die Slowakei, und Slowenien.
andreassolar
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Bei einer systematischen Quellen-Auswertung bzw Auswertung der sowjetischen Quellenedition Galkin/Tschernjajew, Michail Gorbatschow (2011), des Zeitraums Februar-Mai 1990 wird klar sichtbar, für Gorbatschow/Schewardnadse waren die anfänglich teils gefallenen Äußerungen hinsichtlich einer Nichtausdehnung der Nato auf DDR-Gebiet oder eines gewissen Sonderstatus des DDR-Gebietes vollkommen uninteressant, da beide bis Mitte/Ende Mai 1990 - mit gewissen Schwankungen - schlicht immer nur die Neutralität, die insgesamte NATO-Nichtmitgliedschaft eines geeinten Deutschland (akzeptieren) wollten.

Zu keinem Zeitpunkt gingen sie auf jene Äußerungen ein, wiederholten sie sie als Einverständnis, vertieften sie diese als Ausgangsbasis, noch beriefen sich die beiden Sowjet-Politiker später darauf in den 2+4-Verhandlungen. Nie.

Mitterand verdeutlichte entsprechend in einem Gespräch mit Gorbatschow Ende April 1990 sinngemäß und schnörkellos, dass Gorbatschow sich mit dieser kompromislosen Nein-Position zu einer NATO-Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland in eine Sackgasse manövriert habe, Gorbi aber damit inzwischen gar nichts mehr verhindern und bewirken könne.


Der historische Kontext Februar-Mai/Juni 1990 aus sowjetischer Sicht enthält ab Mitte/Ende Februar die Bemühungen, den erklärten Willen der litauischen Sowjetrepublik, Teil der Sowjetunion, nach Unabhängigkeit von der Sowjetunion, explizit dargestellt mit der litauischen Unabhängigkeitserklärung am 11. März. Worauf die sowjetische Führung mit Ablehnung, Wirtschaftssanktionen und massiven politischem Druck reagiert.

Diese angebrochene 'Eiszeit', diese Spannungen und die Herausforderung sowjetischer Macht in der Sowjetunion selbst werden sofort in den Haltungen und Gesprächen der sowjetischen Führung sichtbar, sie bewirken eine verstärkte und betonte Kompromisslosigkeit beispielsweise beim Thema einer NATO-Mitgliedschaft eines kommenden geeinten Deutschland.

Wegen dieser Auswirkungen hatte beispielsweise Bundeskanzler Kohl der litauischen Premierministerin Prunskiene bei ihm Besuch Anfang Mai 1990 in Bonn deutlich gemacht, dass er die Entscheidungen der litauischen Führung an ihrer Stelle nicht getroffen hätte.
Kanzler-Berater Horst Teltschik führte u.a. dies am 14.5.90 in einen Gespräch mit Gorbatschow in Moskau aus:
In Europa ist niemand an einer Destabilisierung interessiert, die wegen Litauen entstehen kann.* Deshalb hat der Kanzler Frau Prunskiene offen gesagt, dass er an der Stelle der litauischen Führung die Entscheidungen, die bei ihnen getroffen worden sind, nicht getroffen hätte. Es muss einen Dialog ohne irgendwelche Vorbedingungen geben und der beste Ausgangspunkt für einen solchen Dialog wäre es, die bewusste Erklärung des litauischen Parlaments vom 10. März einzufrieren.

M. S. Gorbacˇev: Völlig richtig. Alles muss auf den Zustand vor dem 10. März zurückgesetzt werden. Dann könnte man im Rahmen eines Verfassungsprozesses mit dem Scheidungsverfahren beginnen. Unter denen, die in Litauen an die Macht gekommen sind, gibt es zahlreiche unseriöse Menschen, darunter sogar Abenteurer. Das sollte auch im Westen erkennbar sein. Wir haben begrenzte Wirtschaftssanktionen vorgenommen, damit sie spüren, was es bedeutet, mit dem übrigen Teil der Föderation zu brechen.
[...]​
Q: Galkin, Michail Gorbatschow (2011), S. 404.
andreassolar
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Skeptik
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andreassolar hat geschrieben: 14.03.2023, 23:33 Weitere Beiträge folgen...
Soll das eine Drohung sein?

Sollen wir jetzt hier ganze Bücher am Computer lesen? - Erbarmen!!!
Marianne E.
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Hallo Skeptik,
ob Drohung oder Aufforderung.
Hauptsache "lesen bis der Arzt kommt".
Obwohl ich auch der Meinung bin, im Internet bzw. am Computer lesen, ist kalte Kost.
Das gedruckte Wort ist erotisch.
andreassolar
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Was in der kreativen Rückschau und Rückprojektion inzwischen öfter gänzlich übersehen wird, damals wiederum nicht:
Sowohl Genschers Tutzinger Äußerungen von Ende Januar und Bakers gesamte Ausführungen am 9.2.90 in Moskau gegenüber Gorbatschow
  • negieren eine Neutralität Gesamt-Deutschlands,
  • und beide Positionen enthalten ex- wie implizit die Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland in der NATO
  • und die unverminderte NATO-Präsenz wie bisher.
  • Ebenso werden Überlegungen einer jeweils weiterbestehenden Bündnis-Mitgliedschaft für das Gebiet der BRD (NATO) und der DDR (WVO) in einem geeinten Deutschland nicht unterstützt.
Militärisch wie militärstrategisch, das betont Gorbi damals immer wieder, stellte die DDR den mit Abstand wichtigsten, bedeutendsten Standort außerhalb der Sowjetunion dar. Sinngemäß erklärte er beispielsweise US-Präsident Bush irgendwann im Mai 1990, dass Lösungen nach Vorstellungen, die Sowjetunion gebe ihren Militärstandort DDR in einem geeinten Deutschland auf, aber die NATO bleibe wie bisher in Deutschland (und sei es Westdeutschland), ausgeschlossen, inakzeptabel seien.


Gorbi redet mit Baker über Tutzing und schweigt über Genschers Tutzinger Rede:
In jenem Gespräch Baker-Gorbatschow am 9. Februar 1990 referierte Gorbatschow auch jene Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing Ende Januar 1990 zur Zukunft BRD/DDR mit vielen wichtigen Teilnehmern recht ausführlich....U.a. erwähnt er, die Teilnehmermehrheit habe dafür votiert, ein geeintes Deutschland solle beiden Militärbündnissen angehören, die NATO Westen usw., ein kleiner Teil habe sich für die Neutralität ausgesprochen. Beide Positionen entsprachen auch Gorbatschows eigenen Vorstellungen.

Genscher, der sich dagegen in Tutzing explizit für eine auch zukünftige NATO-Mitgliedschaft Gesamt-Deutschlands positionierte, mit dem Zusatz, die NATO möge sich in einem wie auch immer geeinten Deutschland nicht weiter nach 'Osten' [DDR-Gebiet] ausdehnen, wird in Gorbis längeren Ausführungen zur Tutzinger Tagung mit keiner Silbe erwähnt.

Dies zeigt nochmals, dass Genschers Tutzinger Vorschläge/Anregungen bei Gorbatschow auf keine Gegegenliebe, keine Resonanz stießen, wie die anderen, ganz ähnlichen von Baker Anfang Februar.


Gorbi moniert im Brief an Willy Brandt Genschers Position - ohne Namensnennung
Dass Genschers Äußerungen in Tutzing Ende Januar 1990 für Gorbatschow nicht akzeptabel waren, zeigt sich auch in seinem Brief vom 7. Februar 1990 an Willy Brand in Willy Brand, Berliner Ausgabe, Band 10, S. 432f., u.a. schreibt Gorbatschow an Brandt:

Der militärisch-politische Status des künftigen einheitlichen Deutschland ist für uns das Schlüsselproblem. Und es muß so gelöst werden, daß die Sicherheit der Sowjetunion dadurch nicht benachteiligt, daß der Friedensprozeß in Europa dadurch bekräftigt wird. Man sollte wohl kaum die Erörterung der dazu gehörenden Pro- [432] bleme, einschließlich der Möglichkeit für die militärische Neutralität Deutschlands, aufschieben. Mit ihrer Erörterung könnte man schon jetzt im Kreise der vier Mächte und der beiden deutschen Staaten beginnen. Selbstverständlich gibt es auch eine andere Variante, nämlich die Erörterung im Rahmen eines gesamteuropäischen Forums.
Wie dem auch sei, aber das Sicherheitsproblem läßt sich, ob es uns gefällt oder nicht, keinesfalls umgehen. Und diejenigen, die sich auf Gedankengänge über die Zugehörigkeit des ganzen künftigen einheitlichen Deutschland bzw. dessen Teile zur NATO und über die weitere Benutzung des Territoriums der BRD zu den Zwecken einlassen, die den Zielen eines militärischen Blocks dienen, sind gegen die Wiedervereinigung, sind für das Fortbestehen der Spaltung.



Unterstreichungen von mir.

Und gegen diese damals, im zweiten Absatz unterstrichenen, aufgestellten Behauptungen, Einschränkungen und postulierten Ausschlußkriterien, hier von Gorbatschow vorgebracht, hat sich Genscher in seinem Tutzinger Beitrag gewandt.

Die jetzt verbreiteten retroperspektiven Interpretationen Genschers Äußerungen in Tutzing blenden teils bewusst oder aus programmatischen Überlegungen, teils aus mangelnden substanziellen Kenntnissen des Zeitkontextes den Rest von Genschers Rede wie auch den Anlass, Tutzinger Umfeld und Zeitkontext seiner Stellungnahme aus, Gorbatschow Nichtakzeptanz, Ablehnung ebenso.
Dass Bakers ganz ähnlicher, weil mit Genscher abgestimmter Vorschlag in den Gesprächen mit Gorbi am 9.2.90 auf keine nachhaltige, explizite Resonanz und Zustimmung treffen und auch nicht beidseitig anschließend öffentlich kommuniziert werden konnte, und sich niemand in der sowjetischen Führung auch in den nachfolgenden Tagen, Wochen und Monaten berufen wollte, ist evident.

Auch Willy Brandt hat sich in Tutzing gegen eine Neutralität oder eine Zwei-Bündnisse-Lösung für ein geeintes Deutschland positioniert.
andreassolar
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Oder besser formuliert, Gorbatschows (unterstrichene) Worte im Brief an Brandt sind die Reaktion auf die vom Bundesaußenminister, in der Tutzinger deutsch-deutschen Zusammenkunft über die Zukunft beider und eines geeinten Deutschland, ausgebreiteten Vorstellungen & Positionen zur weiteren Zukunft der deutsch-deutschen Entwicklungen.
Bei Treffen mit Baker am 9.2. in Moskau übergeht Gorbatschow bei der Darstellung der Tutzinger Zusammenkunft einfach den Auftritt Genschers, referiert dafür die ihm zusagenden Hauptpositionen des Tutzinger Treffens, vergißt aber dabei nicht Willy Brandt Tutzinger Ansichten....:D .. echt gekonnt...man darf davon ausgehen, dass Baker von Genschers Auftritt wusste...

Da sitzt Baker nun bei Gorbi und versucht den Genscher-Baker-Luftballon wie Sauerbier an den Mann zu bringen.;)..kann man schön nachlesen.
andreassolar
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Die Idee von Ende Januar, Anfang Februar, das DDR-Gebiet eines geeinten Deutschland aus der Nato-Zuständigkeit auszuklammern, war erkennbar die Ausgangsbasis für die später offensiv ab Ende April z.b. von Baker der sowjetischen Führüng angebotenen Formel eines temporären Sonderstatus des DDR-Gebietes in einem geeinten Deutschland hinsichtlich der NATO.

Sie wurde in Moskau natürlich ebenfalls nicht angenommem, ähnelte jedoch schon ziemlich der künftig akzeptierten Kompromißformel für das DDR-Gebiet. Erst in der Rückschau erlangte daher die GenscherBakerKohl-Idee von Ende Januar, Anfang Februar eine vermeintliche Bedeutung, die sie unmittelbar überhaupt nicht gehabt hatte.
andreassolar
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Aus dem Gespräch Kohl-Gorbatschow am 10. Februar 1990 in Moskau am Spätnachmittag.
Q: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/1990 (1998). Nr. 174


Kohl S. 798 f.:
[…] Mit Nachdruck stellte der Bundeskanzler fest, daß eine Neutralisierung mit der Bundesregierung nicht durchsetzbar sei. […] Natürlich könne die NATO ihr Gebiet nicht auf das heutige Gebiet der DDR ausdehnen. Erforderlich seien jedoch Regelungen, um ein Einvernehmen zu finden.[…]​

Kohl lehnt eine Neutralisierung explizit ab, ein geeintes Deutschland bleibt in der NATO und offeriert dafür einen 'Sonderstatus' für die DDR, als Ausgangspunkt für Verhandlungen, Übereinkünfte. Worauf Gorbatschow nicht einging.

Kohl S. 800:
Ein neuer Vertrag werde dann nicht erforderlich sein. Der neugebildete deutsche Staat könne in den Vertrag eintreten, wenn Moskau bzw. Warschau zustimmten.[…] Die Hauptfrage sei der Status des künftigen Deutschlands, vor allem der militärische.​
Gorbatschow:
Dies sei die Hauptfrage, fügte GS Gorbatschow hinzu.​
Kohl:
Eine Lösung dieser Frage sei möglich, erwiderte der Bundeskanzler. Das Interesse des Generalsekretärs sei es, das Sicherheitsinteresse der Sowjetunion zu wahren. Das deutsche Interesse sei, die Souveränität zu wahren und Regelungen zu finden, die auf beiden Seiten Vertrauen schaffen würden.[…]​

Deutlich erkennbar, hatte Gorbatschow die Offerte Kohls nicht aufgenommen, Kohl geht auf einen Allgemeinplatz zurück.

Gorbatschow S. 804:
[…] Er wisse, daß für den Bundeskanzler wie für die meisten anderen die Neutralität nicht nur unannehmbar sei, sondern auch einen Rahmen schüfe, der das deutsche Volk erniedrige. […] Trotzdem sehe er ein vereinigtes Deutschland außerhalb des militärischen Gebäudes mit nationalen Streitkräften, die für die nationale Verteidigung ausreichen. Er wisse nicht, wie der Status aussehen solle, wenn nicht neutral, so vielleicht blockfrei wie beispielsweise Indien, China oder andere in Europa, als aktive Kraft in Europa und in der Welt.
Dieser Gedanke müsse weitergedacht und durchgespielt werden. Alle solche Überlegungen, daß ein Teil Deutschlands in der NATO, der andere Teil dem Warschauer Pakt angehöre, seien nicht ernst zu nehmen. Dies gelte auch für den Vorschlag, das bestimmte Truppen bis zu einem bestimmten Fluß, jedoch nicht im anderen Teil Deutschlands stationiert werden sollten. Dies sei auch nicht ernst zu nehmen. Sie sollten diese Gedanken einmal miteinander durchspielen.[…]
Gegenüber ihren Freunden sollten sie deshalb sagen, daß sie gemeinsam ein interessantes Gespräch darüber geführt hätten, wie Europa und die Welt aussehen sollten, und daß sie dieses Gespräch fortführen wollten.
Er habe über diese Fragen auch mit Baker gesprochen. Baker habe sich auf den Bundeskanzler berufen und vorgeschlagen, daß die Vertreter der zwei deutschen Staaten und der vier Siegermächte miteinander sprechen und einen gemeinsamen Tisch finden sollten.
[…]​

Fett die explizite Ablehnung des Genscher-Baker-Kohl-Idee durch Gorbi, wie schon im Brief an Brandt vom 7.2.90, da diese die abgelehnte NATO-Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland enthielt.


Kohl S. 805:
Der Bundeskanzler faßte das Gespräch zusammen und fragte den Generalsekretär, ob er mit folgender Schlußfolgerung einverstanden sei:
Sie seien sich darüber einig, daß die Entscheidung über die Einigung Deutschlands eine Frage sei, die die Deutschen jetzt selbst entscheiden müßten. Die Deutschen müßten jedoch den internationalen Kontext berücksichtigen. Dazu gehörten auch die Lehren aus der Geschichte, wie sie sich aus dem Krieg und seinen Folgen ergeben hätten. Dazu gehöre auch, daß die Deutschen die berechtigten Sicherheitsinteressen der Nachbarn zu berücksichtigen hätten. Parallel zum Einigungsprozeß in Deutschland müßten in der Frage der Bündnisse befriedigende Lösungen gefunden werden.
[…]​

Kohl verliert kein Wort mehr zu seinem nicht angenommenen, dann selbst auch als Ausgangsbasis abgelehnten Vorschlag.


Aus dem direkt nachfolgenden Gespräch in großer Runde, nun zusätzlich mit den Außenministern der Sowjetunion und der Bundesrepublik sowie weiteren Delegationsmitgliedern am frühen Abend des 10. Februar.
Q: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/1990 (1998). Nr. 175:

Gorbatschow referiert S. 808 f. über sein vorangegangenes Gespräch mit Kohl:
[...] Im Grunde gehe es um zwei sehr wesentliche Momente: die berechtigten Interessen der Deutschen und auch die berechtigten Interessen der Sowjetunion und anderer Völker. Mit dem Bundeskanzler habe er - ohne in Details zu gehen – die militärischen Aspekte dieser Problematik erörtert. Hier sollte man besonders verantwortungsvoll vorgehen – gerade darin habe er mit dem Bundeskanzler volles Einverständnis erzielt. […]​

In der großen Runde kein Wort mehr zu Kohls Vorschlag, auch als Diskussionsbasis.


Kohl S. 809:
[…] Im Zusammenhang mit den Sicherheitsfragen habe man auch über den Warschauer Pakt und die NATO ausführlich gesprochen. Dabei sei selbstverständlich, daß die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion nicht allein auf der Welt seien – gerade habe Außenminister Schewardnadse mit seinem Amtskollegen James Baker über Fragen der Sicherheit, der Abrüstung und Rüstungskontrolle gesprochen. […]​

Da war der Genscher-Baker-Kohl-Vorschlag lautlos in der Versenkung verschwunden....

Das reale Dissens-Thema war die von Kohl und praktisch allen anderen 'westlichen' Verantwortlichen inzwischen immer deutlicher vertretene Position einer unabdingbar gemachten NATO-Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland. Diese wurde, egal mit welchen ähnlichen Vorschlägen eines Sonderstatus für das Gebiet der DDR, konstant abgelehnt, explizit in aller Öffentlichkeit beispielsweise am 5. Mai 1990 zu Beginn der ersten großen 2+4-Gespräche durch Schewardnadse vor Journalisten.
andreassolar
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Ein ganz typischer, neuer Anschlussfehler, der es dennoch in den aktuellen, wissenschaftlichen Mainstream geschafft hat, findet sich in der neuen 'wissenschaftlichen' Interpretation einiger HistorikerInnen der folgenden Gesprächssituation von US-Außenminister Baker und Gorbatschow am 9.2.90:

Baker:
Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, auf die Sie jetzt nicht unbedingt eine Antwort geben müssen. Vorausgesetzt, die Vereinigung findet statt, was ist für Sie vorzuziehen: Ein vereinigtes Deutschland außerhalb der NATO, vollkommen selbstständig und ohne amerikanische Streitkräfte oder ein vereinigtes Deutschland, das seine Verbindungen zur NATO aufrechterhält, aber unter der Garantie, dass die Jurisdiktion oder die Streitkräfte der NATO sich nicht über die derzeitige Linie nach Osten ausbreiten?
M. S. Gorbacˇev:
Wir werden dies alles durchdenken. Wir beabsichtigen, alle diese Fragen auf der Führungsebene gründlich zu erörtern. Selbstverständlich ist es klar, dass eine Ausdehnung der NATO-Zone inakzeptabel ist.
J. Baker:
Wir stimmen dem zu.
M. S. Gorbacˇev:
Es ist durchaus möglich, dass in der Lage, wie sie sich jetzt gestaltet, die Anwesenheit der amerikanischen Streitkräfte eine mäßigende Rolle spielen kann. Es ist möglich, dass wir mit Ihnen gemeinsam darüber nachdenken müssen, wie Sie gesagt haben, dass ein geeintes Deutschland vielleicht Wege zur Aufrüstung, wie das nach Versailles der Fall war, zur Schaffung einer neuen Wehrmacht, suchen wird. In der Tat, wenn es sich außerhalb der europäischen Strukturen befindet, dann kann sich die Geschichte wiederholen. ​


Der erste Anschlussfehler - allerdings traditioneller - Art besteht darin, lediglich die vermeintlich unmittelbar entscheidenden Äußerungen zu berücksichtigen.

So dürfen wir uns ruhig die Bakers 'Zustimmung' nachfolgenden Bemerkungen Gorbis anschauen. Die zeigen schon, wohin Gorbi eigentlich zielt: Er billigt den amerikanischen Streitkräften eine möglicherweise mäßigende Rolle zu, in Westdeutschland, via NATO. Doch die soll ja nicht auf das DDR-Gebiet vorrücken, was damit? Was will Gorbi anschließend mit den Worten aus drücken, wenn sich Deutschland außerhalb europäische Strukturen befinde, drohe sinngemäß Gefahr?

Der zweite Anschlussfehler:
Was stimmt Baker genau zu? Und was hat Gorbi mit seiner Bemerkung, eine Ausdehnung der NATO-Zone sei inakzeptabel, gemeint? Die neuere Deutung geht inzwischen dahin, er habe damit Bakers zweite Version eines geeinten Deutschlands in der NATO, doch ohne Ostausdehnung befürwortet. Was so nicht zutreffend war und immer noch ist. Und woraus inzwischen zudem gerne eine 'Zusage' Bakers konstruiert wird.

Gorbatschow wie Schewardnadse entwickelten bzw. postulierten in den nachfolgenden Tagen, Wochen und Monaten mit großer Ausdauer die Vorstellung einer Übergangszeit für ein geeintes Deutschland, in welchem das geeinte Deutschland in dieser Übergangszeit beiden Bündnisverpflichtungen in den jeweiligen Landesteilen nachkommt. NATO-Truppen im Westen (keine Ostausdehnung!), WP-Truppen im Osten - während beide Bündnisse vereinbart und abgesprochen zugleich abrüsten, Truppen reduzieren und abziehen und die Bündnisse sich in politische Organisation umwandeln. Womit sich die selbst bestimmte Zugehörigkeit eines geeinten Deutschland n a c h jener Übergangszeit zu einem der beiden Militärbündnisse von selbst erledigt und für die Sowjetunion kein Problem mehr darstellt.


Schon am 10.2.90, ein Tag nach dem Gespräch mit Baker, äußert sich Gorbi gegenüber Kohl u.a. so:

Man sagt: Was ist die NATO ohne BRD? Aber es ist auch angebracht zu fragen: Was ist der Warschauer Pakt ohne DDR? Das ist eine schwerwiegende Frage. In militärischen Fragen darf es keine Divergenzen geben. Es heißt, die NATO werde ohne BRD zusammenbrechen. Aber auch für den Warschauer Pakt ist es ohne DDR das Ende. Wenn wir uns über die Hauptsache verständigen, dann ist es wichtig, dass wir auch hier nicht verschiedener Meinung sind. [...]

Wenn wir einseitig sämtliche Streitkräfte aus der DDR abziehen, dann werden Sie die NATO ebenfalls nicht halten. ​


Gorbatschow am 13.2.90 in einem Gespräch mit Beratern, u.a. bemerkt er:

Das Wichtigste für uns: die Positionen bei der Sicherheit, den Grenzen und beim europäischen Prozess halten. [...]
Wir müssen weiterhin vertrauliche Kontakte zu allen aufrechterhalten – im Rahmen der jüngsten Realitäten, insbesondere in Fragen der Sicherheit und der Grenze. Langfristig – Vereinigung Deutschlands. Es ist notwendig, dass die europäische und globale Balance im Verlaufe dieses Prozesses nicht gestört wird. [...]
Wenn beide Blöcke (NATO und OVD) umgewandelt werden, bildet sich ein neues Sicherheitssystem heraus.​


Gorbatschow am 7.3.90 in einem Interview mit der PRAVDA, formuliert u.a.:

Frage: Wie steht die Sowjetunion zu einer wie auch immer gearteten Beteiligung des vereinigten Deutschland an der NATO?
Antwort [Gorbatschow]: Dem können wir nicht zustimmen. Dies ist absolut ausgeschlossen. [...]
Zweitens, wo soll das vereinte Deutschland stehen? Ich glaube, wenn der europäische und der Wiener Prozess vorankommen, werden wir zu Helsinki-2 gelangen und dann werden NATO und Warschauer Pakt von militärpolitischen Organisationen in politische Organisationen umgewandelt. Dies ist die eine Situation. Und dann wird dieser Handel gar nicht mehr notwendig sein – wo soll das vereinigte Deutschland stehen.​



Aus dem zweiten Gespräch M. S. Gorbacˇevs mit G. Bush, Baker und anderen, Washington, Weißes Haus, 31. Mai 1990. Gorbi notiert dort gegenüber Bush u.a.:

Anstatt sich auf die Mitgliedschaft eines künftigen vereinten Deutschland in der NATO zu versteifen, lassen Sie uns lieber darüber nachdenken, wie man die militärpolitischen Blöcke, die Europa immer noch teilen, einander näherbringen könnte. Sagen wir, warum ist die gleichzeitige Mitgliedschaft der BRD in der NATO und im Warschauer Pakt von vorneherein abzulehnen? Eine solche doppelte Mitgliedschaft könnte zu einem verbindenden Element, zu einer Art Vorläufer für neue europäische Strukturen werden und würde zugleich auch die NATO stärken.
Auf praktischer Ebene könnte das vereinte Deutschland erklären, dass es sämtliche Verpflichtungen, die es sowohl von der BRD als auch von der DDR geerbt habe, einhalten werde. Dass die Bundeswehr wie bisher der NATO unterstehen werde, die Streitkräfte in der DDR jedoch der Regierung des neuen Deutschland. Gleichzeitig würden auf dem Territorium der derzeitigen DDR für eine Übergangsperiode sowjetische Streitkräfte bleiben, und dies alles könnte durch ein Abkommen zwischen Warschauer Pakt und NATO ergänzt werden. So nehmen wir vielen Länder die Besorgnis und treiben die Schaffung künftiger Strukturen einer europäischen Sicherheit voran. Man muss nicht alles unbedingt sofort erreichen. Hier ist auch ein schrittweises Herangehen möglich. Sagen wir, wir würden eine Änderung der Doktrin der NATO schon auf der nächsten Sitzung dieses Blocks begrüßen.
[...]
[...]
J. Baker:
Was immer Sie sagen mögen, aber gleichzeitige Verpflichtungen ein und desselben Landes gegenüber Warschauer Pakt und NATO erinnern an Schizophrenie.
M. S. Gorbacˇev:
Nur für einen Finanzmann, der Cent auf Cent stapelt. Aberdie Politik – das ist manchmal die Suche nach dem Möglichen im Bereich des Ungewohnten.
J. Baker:
Aber Verpflichtungen gegenüber Warschauer Pakt und gegenüber der NATO – das sind doch rivalisierende Verpflichtungen.
M. S. Gorbacˇev:
Aha, wir kommen der Sache schon näher. Sie haben von Rivalität gesprochen und diese zieht Konfrontation nach sich. Das heißt, dass sich nichts ändert. Und wenn Sie das vereinigte Deutschland in einen einzigen Block hineinziehen, stören sie empfindlich das Gleichgewicht. Und dann müssen auch wir entscheiden, was in der neuen Situation zu tun ist – ob wir weiterhin in Wien sitzen usw.
[...]​


Und diverse weitere Belege für diese Vorstellungen auf der sowjetischen Führung gibt es in und aus den Gesprächen zwischen Genscher und Schewardnadse. Letzterer hat mit Beharrlichkeit diese Vorstellungen gegenüber Genscher artikuliert.

Warum auch immer nun der Zusammenhang zwischen der im Baker-Gespräch Gorbatschows in dieser Kürze - wegen des nicht eindeutigen Bezuges - etwas zweideutigen Aussage von der Nichtakzeptanz einer NATO-Ausdehnung mit den vielfach von Gorbatschow und Schewardnadse nachfolgenden, inhaltlich bündig anschließend formulierten Vorstellungen inzwischen verloren gegangen ist....das macht das neue Narrativ.
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