Die unbequeme Beschaffung der Mirage 1964 in der Schweiz

Zwei Supermächte stehen sich gegenüber: Vereinigte Staaten gegen die UdSSR

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Orianne
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Der Kauf von Kampfflugzeugen bewegt die Gemüter der Schweiz. Mit dem Beschaffungsentscheid stehen nicht nur die fliegerische Leistung und finanzpolitische Überlegungen, sondern auch die Rolle und Konzeption der Armee zur Debatte. Dies war in den 1990er-Jahren beim Entscheid für den F/A-18 der Fall, besonders aber bei der Beschaffung der Mirage.

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Bilder aus meiner Sammlung (Mirage III S)

Der "Mirage-Skandal" beschäftigte 1964 die Öffentlichkeit über Monate und erschütterte das Vertrauen in die Armeespitze und die politischen Institutionen nachhaltig. Was war geschehen? 1961 hatte das Parlament die Beschaffung von 100 Flugzeugen des Typs Mirage III S für 871 Millionen Franken beschlossen. Bundesrat und Militärs wollten damit die Schweizer Armee für einen Grosskrieg zwischen Ost und West wappnen. Mit der Mirage könne man sogar "mit Atombomben bis nach Moskau fliegen", so der damalige Luftwaffenchef. Bald zeigten sich jedoch die Tücken des Vorhabens. Die Kosten begannen zu explodieren, die Konstruktionspläne erfuhren laufend Änderungen. Als der Kostensprung unübersehbar wurde, sah sich der Bundesrat im April 1964 gezwungen, dem Parlament einen Zusatzkredit von 576 Millionen Franken zu beantragen.

Die Parlamentarier kamen sich düpiert vor. Beide Räte beauftragten deshalb ihre Militärkommissionen mit Abklärungen. Diese beschlossen, ihre Untersuchungen gemeinsam in Form einer Arbeitsgemeinschaft durchzuführen. Die Arbeitsgemeinschaft unter dem Präsidium von Nationalrat Kurt Furgler hielt in der Folge Hearings ab und konsultierte Verwaltungsakten. Im September 1964 lag ihr Bericht vor. Der Befund war eindeutig. Der Bericht kritisierte die Kostenberechnung, die "tendenziöse" Information des Parlaments, den kostentreibenden "Perfektionismus" der Luftwaffe, die Zusammenlegung verschiedener Kredite und das Hinauszögern der Botschaft für den Zusatzkredit. Die Arbeitsgemeinschaft stellte aber auch das Leitbild einer beweglichen Kampfführung in Frage, das dem Flugzeugkauf zugrunde lag.

Unmittelbare Folge des "Mirage-Skandals" war der Verzicht auf 43 Flugzeuge. Zudem suspendierte der Bundesrat Luftwaffenchef Primault. Auch Generalstabschef Annasohn nahm kurz darauf seinen Hut. Im November 1966 trat schliesslich EMD-Vorsteher Chaudet auf Druck seiner Partei zurück. Im gleichen Jahr zog der Bundesrat die militärpolitischen Konsequenzen. Die neue Landesverteidigungskonzeption räumte dem Kampf mit Panzern und Flugzeugen deutlich geringere Bedeutung ein. Um das ramponierte Vertrauen der Öffentlichkeit in die politischen Institutionen wiederherzustellen, beschloss das Parlament schliesslich eine Verstärkung der Aufsicht über Regierung und Verwaltung. So sollten künftig "Vorfälle von grosser Tragweite" durch eine eigens eingesetzte Parlamentarische Untersuchungskommission abgeklärt werden. Dieses Instrument sollte erstmals 1989 beim Rücktritt von Bundesrätin Kopp zum Einsatz kommen.

Am 9. Juni 1964 tritt Kurt Furgler im Nationalratssaal ans Rednerpult. Der Vorsitzende der konservativ-christlichsozialen Fraktion fasst seine Zwischenbilanz zur geplanten Beschaffung von 100 Kampfflugzeugen des Typs Mirage III S in folgende Kurzformel: «Der Bundesrat hat seinen Auftrag nicht erfüllt.»

Dieser Befund beruht auf dem Faktum, dass die Landesregierung einen Monat zuvor einen Zusatzkredit von 576 Millionen Franken anbegehrt hat. Ursprünglich waren die Kosten für den Kauf der französischen Wunderwaffe auf 871 Millionen Franken beziffert worden. Die Kostenexplosion beurteilt Furgler vor dem Nationalratsplenum wie folgt: «Es gibt einen Grenzwert für erlaubte Unterschätzungen; dieser Grenzwert ist hier überschritten.»

Das Debakel um die Mirage-Kampfjets des französischen Herstellers Dassault hat sich schleichend angekündigt. Das Evaluationsteam, das 1958 eingesetzt wurde, hat das Geschäft faktisch unter Ausschluss parlamentarischer Kontrolle vorangetrieben. Die Endausmarchung bestreiten 1960 der schwedische Draken des Anbieters Saab und die kraftstrotzende französische Mirage. Die involvierten Militärs wollen – mitten im Kalten Krieg – nichts anderes als das fliegerische Nonplusultra, teure Helvetisierungen inklusive. Der freisinnige Militärminister Paul Chaudet zieht mit, ebenso der Bundesrat.

Bis sich die Verdachtsmomente erhärten, dass im bisher grössten Beschaffungsvorhaben der Armee die finanziellen Aspekte sträflich vernachlässigt worden sind, verfliessen Jahre. Im Mai 1964 beziffert der Bundesrat das Ausmass der Kostenüberschreitungen öffentlich. Sogleich fegt ein Sturm der Entrüstung durchs Land, der lange nicht mehr abflauen wird. Die «Neue Zürcher Zeitung» stimmt in den Chor der Konsternierten ein. Den Versuch der nationalrätlichen Militärkommission, das eklatante Missmanagement der schweizerischen Mirage-Crew schönzureden, disqualifiziert das Blatt am 26. Mai 1964 mit einem Wort: «Ungenügend.»

In der darauffolgenden Sommersession sind sich die Fraktionen von links bis rechts einig. Es braucht eine Notlandung. Der Ordnungsantrag Kurt Furglers, dass eine parlamentarische Spezialkommission die Kostenüberschreitungen und die damit verbundenen Verantwortlichkeiten abklären solle, passiert im Nationalrat problemlos. Auch der Ständerat schwenkt ein.

Produktive Kommission

Der Ruf nach einer ausserordentlichen Arbeitsgruppe ist ein Novum. Erstmals tritt im Bundeshaus eine parlamentarische Untersuchungskommission in Aktion. Das Präsidium des 32-köpfigen Gremiums – 20 Nationalräte, 12 Ständeräte – übernimmt Kurt Furgler.

Das Tempo, das die Kommission einschlägt, ist beeindruckend. Sie konstituiert sich unmittelbar nach der Sommersession und beschliesst, fortan allwöchentlich von Montag bis Mittwoch zusammenzutreten. Die Zielvorgabe lautet, dass die Arbeiten auf die Herbstsession hin beendet werden. Insgesamt werden 51 Personen befragt, zudem müssen unzählige Dokumente gesichtet werden. Die Kommission erfüllt die gesteckten Zielvorgaben. Am 2. September 1964 präsentiert sie ihren 138-seitigen Untersuchungsbericht. Das Urteil fällt schonungslos aus. Verantwortliche werden genannt, Unterlassungen aufgedeckt. Das Parlament quittiert die Offenlegung des Mirage-Skandals zustimmend. Die erste parlamentarische Untersuchungskommission der Eidgenossenschaft hat ganze Arbeit geleistet.

Der Bericht Furgler, der in aufgewühlter Zeit einem politischen Überschallknall gleichkommt, führt dazu, dass nur 57 statt 100 Mirage-Flugzeuge beschafft werden. Unmittelbar rollen die Köpfe von Generalstabschef Jakob Annasohn und von Etienne Primault, Waffenchef der Luftwaffe. Bundesrat Paul Chaudet kann sich, obschon sein Image im Keller ist, vorerst halten. Im November 1964 schlägt die freisinnige Fraktion den Waadtländer Weinbauern allerdings nicht für die Wahl zum Vizepräsidenten des Bundesrats vor. Verbittert tritt Chaudet darauf zurück.

Der Mirage-Skandal markiert nicht nur einen rüstungspolitischen Tiefpunkt, sondern auch ein parlamentarisches Glanzstück. In der NZZ vom 11. Juni 1964 ist nachzulesen: «Wenn das Parlament durch einen nun fällig gewordenen Ausbau des eigenen Instrumentariums seine Würde neu befestigt, hätte unter dem staatspolitischen Aspekt die massive Kreditüberschreitung ungewollt auch ihre positiven Seiten.» Dieser Erwartung ist die Kommission Furgler eindeutig nachgekommen.

Die Entschlossenheit und die Produktivität, welche die Arbeit der damaligen Kontrolleure gekennzeichnet haben, könnte sich das heutige Parlament zum Vorbild nehmen.

Die Mirage-Affäre schädigte das Ansehen des verantwortlichen Bundesrats Paul Chaudet schwer - so schwer, dass viele seiner freisinnigen Parteikollegen nicht mit der «Chaudet-Hypothek» in die Nationalratswahlen von 1967 gehen wollten, ihn fallenliessen und damit auch seinen Rücktritt provozierten. Ungeachtet der Affäre, die seine Amtszeit in der Landesregierung (1955 bis 1966) überschattet, erlebten Zeitgenossen den Weinbauern aus Rivaz als aussergewöhnliche Persönlichkeit mit lebhafter Intelligenz, natürlicher Autorität und einem Sinn fürs Praktische. Chaudet konnte keine Hochschulbildung vorweisen, galt aber als belesen, offen und sachkundig. Nach seinem Ausscheiden aus dem Bundesrat blieb er vielseitig engagiert. Er übernahm unter anderem Aufgaben für die Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen, FAO, und präsidierte Kinderschutzorganisationen. Ab 1974 bis zu seinem Tod 1977 war er zudem Präsident der Schweizerischen Volksbank*. Chaudet schrieb auch zwei Bücher und hielt zahlreiche Vorträge. Zur «Mirage-Affäre» und zu seinem Rücktritt nahm er dabei aber nie ausführlicher Stellung.

*Zu seinem Unglück ging auch die Schweizerische Volksbank unter und zwar 1993, sie wurde von der SKA der heutigen Credit Suisse, aber das erlebte Paul Chaudet nicht mehr.

Quellen: VBS, NZZ und eigene Aufzeichnungen.
Grant stood by me when I was crazy, and I stood by him when he was drunk, and now we stand by each other.

General William Tecumseh Sherman
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