Die Industrialisierungsdebatte in der SU 1924-1928

Lenin, Revolution, Zarenreich, Stalin

Moderator: Barbarossa

ehemaliger Autor K.

Ausgehend von dem Artikel über den Holodomor möchte ich etwas über die Vorgeschichte schreiben, nämlich über die Industrialisierungsdebatte im Politbüro der UDSSR 1924-1928.

Die Bolschewiki hatten in einem Land gesiegt, das für den Sozialismus keinerlei Voraussetzungen bot. In der Theorie sollte die sozialistische Revolution in einem Staat siegen, der durch den Kapitalismus bereits hoch entwickelt war. Doch Russland war ein rückständiges Agrarland mit nur rudimentärer Industrie. Die Bolschewiki mussten die moderne Industrie erst aufbauen und da die erhoffte Weltrevolution ausblieb, wurde es notwendig, den „Sozialismus in einem Land“ zu entwickeln.

Das führte zu einer langen Theoriediskussion in der Partei und dabei schälten sich langsam drei Fraktionen heraus:
Die linke Fraktion um Preobraschenski und Trotzki entwickelte die „Theorie der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation“, ausgehend von der von Marx im Kapital skizzierten „ursprünglichen Akkumulation des Kapitals“. Diese besteht hauptsächlich aus der Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln und deren Verwandlung in Kapital. In England hatte die Entwicklung Jahrhunderte gebraucht. In verschiedenen Schüben, unter anderem durch die sogenannten „enclosures“ waren immer wieder Bauern von ihrem Land vertrieben worden. Aus ihnen rekrutierte sich das spätere Proletariat. Kapital bildete sich durch Fernhandel, Piraterie, Kolonialismus und Sklavenhandel. Diese Gelder waren die nötige Voraussetzung für die Finanzierung der industriellen Revolution. England und die anderen kapitalistischen Staaten hatten viel Zeit gebraucht, um ihren derzeitigen Entwicklungsstand zu erreichen.

Die Sowjetunion wollte diesen jahrhundertelangen Prozess abkürzen und in wenigen Jahren eine führende Industrienation werden. Aber auch hier mussten die Bauern zunächst vom Land vertrieben werden, um sich in Arbeiter zu verwandeln. Da es kein Privatkapital gab, musste nun der Staat die Rolle einnehmen, die im Ausland die Kapitalisten ausübten.

Da Russland keine Kolonie besaß, standen nur interne Finanzierungsmöglichkeiten zur Verfügung. Preobraschenski empfahl die bewusste „Brechung des Wertgesetzes“. Die Bauern sollten für ihre Produkte nur niedrige, vom Staat vorgegebene Preise erhalten, also unter ihrem Wert bezahlt werden. In den Städten sollten hohe Preise, über ihren Wert, berechnet werden. Die Differenz kassierte der Staat. Durch die doppelte Ausbeutung von Bauern und städtischen Konsumenten sollte der Staat hohe Einnahmen bekommen zur Finanzierung der Industrie. Viele Bauern würden es dann vielleicht vorziehen, ihr Land zu verlassen und in die Stadt übersiedeln. Dem könnte man vielleicht auch durch eine Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche nachhelfen. Im Endeffekt hätte man dann Arbeitskräfte und Kapital.

Diese Auffassung wurde von Stalin als trotzkistische Abweichung scharf kritisiert. Sie würde das Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern zerstören.

Er begünstigte stattdessen die Theorie von dem Cheftheoretiker Bucharin. Dieser empfahl eine Förderung der Kulaken mit der Parole „Bereichert euch!“ Die Kulaken sollten Überschüsse produzieren und in der Stadt verkaufen. Die Kulaken wären dann auch ein Markt für industrielle Produkte. So würde sich ein Warenaustausch zwischen Stadt und Land entwickeln, materielle Anreize entstehen und der Wohlstand steigen. Dann würden auch Steuereinnahmen sprudeln.

Seine Kritiker antworteten: Dadurch würde sich nur eine neue Bourgeoisie auf dem Land herausbilden und lediglich eine Kattunindustrie entstehen, eine Leichtindustrie, aber keine Schwerindustrie, die man seinerzeit für wichtiger erachtete.

Stalin lavierte zwischen Trotzki und Bucharin. Schließlich schaltete er die „linke Fraktion“ aus. Danach bekämpfte er Bucharin als „rechten Opportunisten“, der den Kapitalismus wieder einführen wollte. Als er stark genug war, entschloss sich Stalin mit seinen Anhängern, die ursprünglich von ihm bekämpfte Theorie von Preobraschenski zu übernehmen, aber in viel radikalerer Form, als der sich dies jemals ausgedacht hatte.

Grundlage: Die Industrialisierungsdebatte in der Sowjetunion 1924-1928
Februar 1991
von Alexander Erlich
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Gontscharow
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Unter den Blinden ist der Einäugige König ....
Bei den Bolschewisten gab es aber nicht mal Einäugige, wenn es um wirtschaftlichen Sachverstand ging.
Keine Ahnung, ob ein Theoretiker in der Lage sein sollte, gemäß seinen eigenen Theorien - oder erst mal überhaupt -
so zu wirtschaften, daß er wenigstens sich selbst ernähren kann. Das konnte fast keiner von den Bolschewisten,
als Rußland noch zaristisch war . Genau diese Leute entwickeln aber rechthaberische Theorien über die Ökonomie -
und, was schlimmer ist, wollten sie mit Brachialgewalt in die Realität umsetzen.
Ein ganzer Land und Volk als Versuchskaninchen sozusagen. Wenn das Experiment scheitert und die Versuchskaninchen
sterben, ist das nicht weiter beunruhigend : Durch die Terrorherrschaft wird jede Kritik sofort wirksam unterbunden.

Rußland wäre mit Sicherheit auch ohne Stalins "Maßnahmen" zu einem Industrieland geworden, in den letzten Jahren vor dem I.WK hatte das Zarenreich exorbitante Wachstumsraten. Rußland ist reich an allem und von der Natur mit Bodenschätzen aller Art gesegnet -
das einzige, was dem Land fast immer fehlte, war eine vernünftige Regierung.Heute wie zu Sowjetzeiten wie im Zarismus,
der nur wenige effiziente und erfolgreiche Herrscher hervorbrachte.
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