68er Bewegung - 1. Frühling? Entstehung, Geschichte, Folgen

Kommunalwahlen, Meinungsumfragen, Konflikte, Religionen, Ereignisse

Moderator: Barbarossa

Renegat
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In http://geschichte-wissen.de/forum/viewt ... 4&start=15 wird die 68-er-Bewegung schwer gestreift, die Diskussion geht aber eher um ein paar Namen, die mit ihr in Verbindung gebracht werden.
Mao, Marx, Marcuse, Che Guevara, Ho Chi minh, die Aufzählung ist erweiterungsfähig, treffen aber nicht den Kern der Bewegung. Es ging um Veränderung in vielerlei Hinsicht, wahrscheinlich verstand jeder etwas anderes darunter. Man traf sich auf Plätzen und Demos, die Bewegung hatte trotz ihres Anfangs in Studentenkreisen eine riesige Breitenwirkung auf die gesamte junge Generation bis weit in die folgenden Jahrzehnte, wahrscheinlich sogar bis heute. Während dieser langen Nachhallphase veränderte sie sich. Fast alle Ideen wurden hinterfragt, ausgiebig diskutiert und immer wieder korrigiert oder sogar revidiert.
Ist vielleicht die Fähigkeit, eigene Ideen und Werte kritisch zu hinterfragen, eine typische 68-er-Tugend?
Sind das nicht die demokratischen Mechanismen, die erst einen Kompromiß möglich machen?

Wenn ich mir heute die arabischen Frühlinge ansehe, die bes. in Ägypten schon für gescheitert erklärt wurden, denke ich manchmal, wie werden sie in 30 Jahren beurteilt werden?
Sollte man überhaupt erwarten, dass friedlich begonnene Umwälzungen auf Dauer 1 : 1 umgesetzt werden?
Oder geben sie nur den Anstoß zu einem langsamen Breitenwirkungsprozeß, den man nur in der Rückschau beurteilen kann, wenn überhaupt.
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dieter
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Lieber Renegat,
die Anstöße von 68 kann man heute noch überall erleben. Der § 175 des St.GB wurde abgeschafft und die Abtreibung in den ersten drei Monaten erlaubt. :wink:
Für mich persönlich in der Behörde wurde es üblich, keinen Schlips am Arbeitsplatz mehr zu tragen. Am 25.7.1968 habe ich meine liebe Frau geheiratet, wie sind immer noch zusammen, haben inzwischen einen klugen Sohn und drei goldige Enkelkinder. :)
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Marek1964
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Interessant, das muss Gedankenübertragung sein, ich hatte auch vor, die 68er Bewegung zu thematisieren. Ich bin, was die 68er Bewegung anbelangt, allerdings recht gnadenlos. Am besten finde ich die Textbox in einem tschechischen Geschichtsbuch für 15jährige aus dem Jahre 2004, das ich durchgelesen habe; es schilderte die westliche 68er Bewegung so:

Diese Bewegung wusste vor allem, wogegen sie war, nicht so sehr wofür.

Klar ist aber auch, dass die linke 68er Bewegung vor allem und zuerst alles andere besser fand als die eigene Gesellschaft, ohne auch nur belastbare Informationen über die Alternativen zu haben, ohne ein eigenes überlegenes Konzept zu haben. Karl Marx hatte wenigstens ein Konzept, wie eine Alternative aussehen sollte. Revisionisten unter den Sozialisten erkannten dann allerdings schon im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts recht deutlich, dass vieles irgendwie nicht so recht stimmen konnte mit den Theorien von Marx. Der Holodomor oder André Gides "Rückkehr aus der UdSSR" hätten eigentlich schon vor dem zweiten Weltkrieg klar machen können, dass, wie es später George Soros ausdrücken sollten, die "Medizin war Schlimmer als die Krankheit". Der unschmeichelhafte Vergleich der zwischen der DDR und der BRD hätte eigentlich jedem klar machen müssen, dass der Sozialismus von seiner Grundkonzeption nicht wird funktionieren können.

Dabei denke ich, dass die Hauptschwäche der Bewegung, ähnlich wie bei Karl Marx, die Realitätsfremde und mangelnde Kenntnis der eigenen Gesellschaft, aber des Menschen überhaupt. Insbesondere die Kenntnisse über wirtschaftliche Zusammenhänge fehlten.

Kritik um ihrer selbst willen, darin sehe ich keinen Frühling - das ist eher etwas unnreifes, pubertierendes. Alles was die Eltern machen, ist schlecht. Ausserdem gab es Möglichkeiten Kritik zu üben in der parlamentarsichen Demokratie auch schon, wie auch in der Weimarer Republik und selbst das Kaisserreich war kein totalitäres System.

Mag sein, dass am Ablegen gewisser kleinbürgerlicher Formen, dem erhöhten Umweltbewusstsein, weniger Materialismus, der Solidarität mit der Dritten Welt und weniger autoritärer Erziehung und berechtigter Skepsis gegenüber Autoritäten die 68er Bewegung und ihr dann nachwirkender Geist ihren Anteil haben. Die Frage ist allerdings, ob man nicht in vielerlei Hinsicht das Kind nicht mit dem Bad ausgeschüttet hat und gute alte Sitten und Gemeinsinn über Bord geworfen hat. Da ist es allerdings schwer, zuzuordnen, was auf den Geist der 68er Bewegung zurückzuführen ist und was auch so oder so sich entwickelt hätte. Das gilt für das positive wie für das negative.
Renegat
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Naja, ob das tschechische Geschichtsbuch von 2004 der 68-er Bewegung wirklich gerecht wird, möchte ich doch bezweifeln. Und für eine Bewegung, die nur wußte, wogegen sie war, hat sie ´ne Menge losgetreten, denn deiner Aufzählung ließe sich noch einiges hinzufügen.
Marek1964 hat geschrieben:
Mag sein, dass am Ablegen gewisser kleinbürgerlicher Formen, dem erhöhten Umweltbewusstsein, weniger Materialismus, der Solidarität mit der Dritten Welt und weniger autoritärer Erziehung und berechtigter Skepsis gegenüber Autoritäten die 68er Bewegung und ihr dann nachwirkender Geist ihren Anteil haben.
Wie ich in dem anderen Thread schon schrieb, sehe ich in der Bewegung auch einen Generationenkonflikt. Deren spätere Breitenwirkung war nicht in erster Linie politisch. Die APO-Anfänge mögen eine utopistische, linke Neigung gehabt haben. Die Extrempositionen wurden aber in der Breite stark abgemildert.
Renegat hat geschrieben:Ich denke, man muß bei der Einschätzung von Mao im Westen in den späten 60er und 70er Jahren, den gesamten Kontext der Zeit berücksichtigen. Über die lückenhaften Kenntnisse der Verbrechen wurde bereits diskutiert.
Die 68er Bewegung setzte sich in D mit der Nazivergangenheit auseinander, sie war auch ein Generationenkonflikt, denn die Nazis und die von ihnen geprägte Vorkriegsgeneration war damals die Elterngeneration. In der Argumentation stellte der "gute" Marxismus ein Gegenargument dar, gegen die abgeschmackten Nazientschuldigungen. Spätestens seit der Beendigung des Prager Frühlings war der Kommunismus/Stalinismus der UdSSR diskreditiert. Also blieb nur Maos China als Gegenentwurf. Die Vernetzung war damals nicht so weit fortgeschritten, vielleicht hätte man trotzdem erfahren können, wie sich Maos Ideen in China direkt auswirkten. Vielleicht hat man einiges ausgeblendet.
Man hat vor allem Chinas Außenpolitik betrachtet, die Taten in Afrika, z.B. in Tanzania. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45302805.html liest sich wie aus einer anderen Welt.
Diese Unterscheidung von "guten und schlechten" Kommunisten kommt auch im Interesse für das Albanien Enver Hoxhas zum Ausdruck , typisch für den Zeitgeist der 70er.
Wie wichtig wenigstens ein real existierender Gegenentwurf für eine Gesellschaft ist, sieht man so richtig erst seit gut 10 Jahren, seit es keinen mehr zu geben scheint. Denn erst seitdem werden die Negativmerkmale des Kapitalismus in härtester Konsequenz ausgelebt.
Marek1964 hat geschrieben:Die Frage ist allerdings, ob man nicht in vielerlei Hinsicht das Kind nicht mit dem Bad ausgeschüttet hat und gute alte Sitten und Gemeinsinn über Bord geworfen hat. Da ist es allerdings schwer, zuzuordnen, was auf den Geist der 68er Bewegung zurückzuführen ist und was auch so oder so sich entwickelt hätte. Das gilt für das positive wie für das negative.
"Das Kind mit dem Bade ausschütten" ist ein schönes Bild. Ich denke, will man etwas verändern, muß man zuerst extreme Positionen vertreten. Durch gesellschaftliche Prozesse werden diese Positionen ohnehin verwässert und das ist auch gut so. Mit so einem Konsensergebnis können dann die meisten leben.
So könnte es sein, dass sich ohne die 68-er-Bewegung, die ja weltweit im Westen ähnliche Positionen vertrat, der Kapitalismus sich schon damals so extrem entwickelt hätte, wie in den letzten Jahren. Das ist natürlich eine gewagte These, die sich nicht beweisen läßt.
Die guten Sitten und der Gemeinsinn sind aber mE erst im letzten Jahrzehnt abhanden gekommen und zwar mit dem Umsichgreifen des entfesselten Kapitalismus.
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Marek1964
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Renegat hat geschrieben:Naja, ob das tschechische Geschichtsbuch von 2004 der 68-er Bewegung wirklich gerecht wird, möchte ich doch bezweifeln.
Ich habe ja in den siebziger bis Mitte neunziger Jahre in der Schweiz gelebt. Jedenfalls die Linken, die ich kennengelernt haben, hatten, im Nachhinein erst recht betrachtet, nicht von allzu viel eine Ahnung. Ich fand den Satz, so gelesen, sehr treffend. Wenn man nur einen Satz über diese Bewegung sagen dürfte, würde ich diesen wählen.
Renegat hat geschrieben:Die guten Sitten und der Gemeinsinn sind aber mE erst im letzten Jahrzehnt abhanden gekommen und zwar mit dem Umsichgreifen des entfesselten Kapitalismus.
Kommt natürlich auf den konkreten Fall an. Die Selbstbedienungsmanager - das stimmt. Aber am alltäglichen Egoismus sehe ich die antiautoritäre Erziehung als wichtigen Faktor.
Renegat
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Muß man denn eine Ahnung vom real existierenden Sozialismus haben, um linke Ideen als Gegengewicht zum Kapitalismus zu nutzen?
Das ist doch ein Totschlagargument mit ganz langem Bart "Geht doch rüber in die DDR" :?:

Ein allgemeiner Zusammenhang von antiautoritärer Erziehung und Egoismus ist mir zu platt. Was genau verstehst du darunter und wie breit wurde so erzogen, gerade im Westen, wo es eine Vielzahl an Erziehungsformen und -institutionen gab?
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Barbarossa
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Renegat hat geschrieben:Muß man denn eine Ahnung vom real existierenden Sozialismus haben, um linke Ideen als Gegengewicht zum Kapitalismus zu nutzen?
Das ist doch ein Totschlagargument mit ganz langem Bart "Geht doch rüber in die DDR" :?:
Darum eignet sich der real existierende Sozialismus als Argument gegen jegliche Form des Sozialismus.
Man sollte um diese Geschichte aber vor allem darum dringend wissen, um ähnliche Fehler in der Zukunft zu verhindern. Die Hauptlehre, die ich daraus ziehe ist, dass ein totalitäres System in Zukunft unbedingt zu verhindern ist und die Lehre von Marx, Engels und Lenin führte direkt in die totalitäre Diktatur. Das war imho unausweichlich.
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Renegat
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Oh bitte Barbarossa, nicht wieder diese Diskussion. Die linken Ideen in der BRD führten zu sozialer Marktwirtschaft, Bafög, Gewerkschaften, Tariflöhnen, Betriebsräten und vielen anderen sozialen Errungenschaften und das alles hatte überhaupt nichts mit einer totalitären Diktatur zu tun.
Auf Demokratie und Freiheit wollten die wenigsten 68-er verzichten, behaupte ich mal, wären sie ja schön blöd gewesen. Das bißchen linke Jugendbewegung, vor allem in den Nachwirkungen, hat die häßlichen Auswüchse des Kapitalismus ein wenig in Schach gehalten.
Bis ihr Ossis uns in Parade gefahren seid, ihr seid schuld, dass der Kapitalismus jetzt euphorisch ohne Rücksicht seinen Triumph feiert. :D
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Barbarossa
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Renegat hat geschrieben:Oh bitte Barbarossa, nicht wieder diese Diskussion.
Ich hab doch nur auf deine Frage geantwortet.
:wink:
Renegat hat geschrieben:Die linken Ideen in der BRD führten zu sozialer Marktwirtschaft, Bafög, Gewerkschaften, Tariflöhnen, Betriebsräten und vielen anderen sozialen Errungenschaften und das alles hatte überhaupt nichts mit einer totalitären Diktatur zu tun.
Und wer hat das alles eingeführt? Der Vater der sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland nach dem Krieg war doch Ludwig Erhard (CDU) und der war alles andere als ein linker Politiker. Also ist das auch schlecht ausschließlich auf linke Ideen zurückzuführen. (Ok, die Einführung des Bafög fiel in die Brandt-Zeit.)
Das gleiche gilt auch für die Sozialversicherung, die Bismarck eingeführt hat.
Für mich ist es also nicht einmal so ganz eindeutig, ob linke Politiker wirklich so große Anteile an den sozialen Errungenschaften in D. haben, oder ob sie das nur besonders laut für sich reklamieren.
Renegat hat geschrieben:Auf Demokratie und Freiheit wollten die wenigsten 68-er verzichten, behaupte ich mal, wären sie ja schön blöd gewesen. Das bißchen linke Jugendbewegung, vor allem in den Nachwirkungen, hat die häßlichen Auswüchse des Kapitalismus ein wenig in Schach gehalten.
Na ja, da gab es wohl sehr unterschiedliche Strömungen. Die radikalsten von ihnen schlossen sich ja zur RAF zusammen und die hatten mit Freiheit und Demokratie wirklich nichts im Sinn. Das darf man auch nicht vergessen.
Renegat hat geschrieben:Bis ihr Ossis uns in Parade gefahren seid, ihr seid schuld, dass der Kapitalismus jetzt euphorisch ohne Rücksicht seinen Triumph feiert. :D
Na danke schön! Unsere Selbstbefreiung vom Joch war also euer Verderben, ja? :?
Zum Glück meinst du das nicht ernst, aber ich fürchte, bei viel zu vielen bleibt ganau das hängen, weil mit dem Untergang des Ostblocks und dem Fall des Eisernen Vorhangs die Globalisierung so richtig in Schwung kam. Und die Globalisierung war wohl der Hauptgrund für so manche Verwerfung.
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dieter
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Ich erkläre mal, wie es vor 1968 war. In der Schule wurde noch geschlagen, trotzdem das vom Hess. Kultusminister verboten war. Unsere Seilschaften von alten Nazis und Offizieren hielten sich nicht daran. Was soll man machen :?: Sich beim Rektor beschweren :?: Der war selber ein alter Nazi. Habe das mal durchexerziert. Mein Mathelehrer gab mir eine Sechs in Algebra, weil ich einen algebraischen Satz nicht konnte und ich trotz Lehrmittelfreiheit in Hessen kein Algebra-Buch bekam und auch keins zu kaufen war. Beschwerte mich also beim Rektor, der Mathelehrer mußte die Sechs zurücknehmen, schikanierte mich aber dann laufend, so bekam ich bei einer Klassenarbeit für eine gelöste Aufgabe eine Drei für eine Fehlerhafte eine Sechs, so dass ich zum Schluß mit einer Vier zufrieden sein mußte. Es gab noch andere Schikanen, die ich alle nicht aufzählen will. Gott sei dank ging er an eine deutsche Schule in das damals noch fachistische Spanien. :roll:
Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem Andern zu.
ehemaliger Autor K.

Ich hatte einmal über die Situation 1967/68 einen kleinen Aufsatz geschrieben. Hier ein Auszug:

"Seit Mitte der sechziger Jahre hatte es an den beiden Berliner Universitäten, der Freien Universität (FU) und der Technischen Universität (TU), Auseinandersetzungen zwischen Professoren und Studenten gegeben. Der Unmut der Studierenden richtete sich gegen die Allmacht der Professorenschaft und den Studien-und Prüfungsordnungen. Dieser eher begrenzte Konflikt wurde von den Studenten, vor allem von dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), bald auf allgemeine, politische Probleme ausgeweitet. Die Kritik richtete sich vor allem gegen die amerikanische Schutzmacht, denen man ihre demokratische Legitimation nicht mehr abnahm, da sie Regime wie den persischen Schah oder die griechische Militärjunta unterstützte. Vor allem der brutale Krieg in Vietnam erregte die Gemüter, denn hier ging es ganz offensichtlich nicht mehr um die Verteidigung der Demokratie, da man die herrschenden Generäle in Saigon nun wirklich nicht mehr als Garanten einer demokratischen Ordnung in ihrem Land ansehen konnte. Auch die Bundesregierung und der Berliner Senat gerieten ins Kreuzfeuer der Kritik, denn deren Ostpolitik, die in erster Linie darin bestand, weder die DDR noch die übrigen Ostblockstaaten überhaupt zur Kenntnis zu nehmen oder gar mit ihnen zu verhandeln, erschien angesichts der politischen Realitäten völlig weltfremd zu sein.

Die bis dahin zumeist eher klamaukartigen Aktionen der Studentenschaft, ihre Demonstrationen, Happenings und Sit-ins, hatten oftmals mehr spielerischen Charakter, bis es dann zu dem dramatischen Höhepunkt am 2. Juni 1967 kam und anlässlich einer Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs der Student Benno Ohnesorg von der Polizei erschossen wurde. Danach begann der Konflikt sich erheblich zu verschärfen, alles steuerte nun auf eine Konfrontation zu zwischen dem Senat einerseits und der radikalen Studentenschaft andererseits, die jetzt auch von Personen außerhalb der Universität Unterstützung bekamen. Es bildete sich die sogenannte Außerparlamentarische Opposition (APO).

Die Westberliner Bevölkerung verfolgte die Vorgänge an den Universitäten zunehmend mit Misstrauen und Ablehnung. Hatte man die universitären Auseinandersetzungen zunächst eher desinteressiert zur Kenntnis genommen, wurden die Demonstrationen der Studenten für viele langsam zum Ärgernis. Dies hing einerseits zusammen mit dem weit verbreiteten Antiintellektualismus, hatte doch der einstige Bundeskanzler Erhardt Gammler, Pinscher und Intellektuelle in einem Atemzug verdammt und der autoritär geprägte Bürger duldete keine Störung der öffentlichen Ordnung. Noch immer herrschte die Meinung aus dem wilhelminischen Deutschland vor, demzufolge Kritik in erster Linie destruktiv, schädlich und zersetzend ist.

In Berlin, der Frontstadt im Kalten Krieg, hatte sich zudem ein besonderer Gemeinschaftsgeist herausgebildet. Erfahrungen wie die Berliner Blockade im Jahre 1948, die zahlreichen Berlin-Krisen danach und der Mauerbau, das Gefühl auf einer Insel zu leben, umgeben von dem Herrschaftsbereich der roten Machthaber im östlichen Teil der Stadt, das hatte zu einer emotionalen Solidarität geführt, die besagte, dass man gegen die kommunistische Gefahr zusammenstehen muss und das die westlichen Alliierten die Freiheit der Stadt garantieren. Wer aus dieser Gemeinschaft ausbrach, durfte auf kein Verständnis oder Toleranz hoffen. Das Liebäugeln der radikalen Studenten mit der vietnamesischen Revolution und ihre Attacken gegen die amerikanische Schutzmacht machte sie als kommunistische Handlanger verdächtig.

Die radikale Studentenschaft umfasste anfänglich nur wenige tausend Personen und es hätte eigentlich keinen Grund gegeben, die Auseinandersetzung mit ihnen auf die Spitze zu treiben. Dass die Situation sich aber schon bald unerhört verschärfte, lag vor allem am Springer-Konzern, der den Berliner Zeitungsmarkt beherrschte, die Bekämpfung der APO zur Chefsache erklärte und einen wahren Kreuzzug gegen sie startete.

Die Attacken aus den Redaktionsräumen dieses meinungsbeherrschenden Pressegiganten wurden immer heftiger, da sich dort auf die „kleine, radikale Minderheit“ eingeschossen wurde. Die Artikel in ihren Zeitungen hatten nur noch wenig mit objektiver Berichterstattung zu tun, sondern waren vor allem dazu geeignet, die Emotionen der Leser in einem unverantwortlichen Ausmaß aufzuputschen. Diese Vendetta zwischen dem Springerhaus und der APO nahm immer groteskere Ausmaße an und veranlasste die Studenten zu ihrer Forderung „Enteignet Springer!“

Der Berliner Senat geriet nach dem 2. Juni 1967 in eine schwere Krise. Hatte der regierende Bürgermeister Heinrich Albertz von der SPD unmittelbar danach noch den Demonstranten die Schuld am Tod von Benno Ohnesorg gegeben, rückte er in den nächsten Wochen immer mehr von dieser Aussage ab. Ein am 7. Juni 1967 einberufener parlamentarischer Untersuchungsausschuss attestierte Polizei und Politik zahlreiche Fehler. In der regierenden Sozialdemokratie waren die Meinungen über die weitere Vorgehensweise geteilt. Der rechte Flügel unter Senator Neubauer wollte hart durchgreifen gegen sogenannte Rädelsführer, auf dem linken Flügel gab es hingegen durchaus Sympathien für die APO. Heinrich Albertz geriet immer mehr unter Druck, er erwies sich zunehmend als handlungsunfähig und trat am 26. September 1967 zurück. Sein Nachfolger, Klaus Schütz, der sein Amt im Oktober antrat, erschien sowohl den Linken als auch den Rechten in der Partei eine gute Alternative zu sein, hatte er doch den Ruf eines Technokraten, der entschlossen schien, die Probleme schnell und effizient zu lösen und selbst die Opposition von der CDU im Senat konnte sich für ihn erwärmen. Der neue Bürgermeister geriet nun schnell unter den Druck der Springer-Presse, die von ihm ein konsequentes Vorgehen gegen die APO erwartete.

In seiner Regierungserklärung verkündigte Klaus Schütz, dass er sich bemühen werde, die „Wiederherstellung des Vertrauens“ zwischen Studenten und Bevölkerung zu erreichen, jedoch blieben verschiedene Diskussionen zwischen dem Bürgermeister und der Studentenschaft bezüglich der Neuorganisation der Universitäten ohne Ergebnis. Die Gesprächsbereitschaft zwischen beiden Seiten kam Ende des Jahres zum Stillstand. So war es nicht verwunderlich, dass die Konflikte schon bald wieder ausbrachen und im Februar 1968 erneut eskalierten.

Als in der Nacht vom 1. zum 2. Februar 1968 die Scheiben von sieben Springer-Filialen von unbekannten Tätern zertrümmert wurden, spitzte sich die Auseinandersetzung wieder zu. Die Verantwortlichen wurden nicht gefasst, doch meinte der Zeitungskonzern zu wissen, dass sie in den Reihen der linken Studenten zu suchen seien. Kurz zuvor hatte man in der TU einen satirischen Film über die Herstellung eines Molotow-Cocktails gezeigt. Dies schien Beweis genug zu sein, dass die Universitäten sich inzwischen in linke Terrorzentralen verwandelt hatten. Die APO plante zudem für den 9.2.1968 ein sogenanntes Springer-Hearing, nach Meinung der Berliner Morgenpost eine „Aufforderung zum Terror“. Des Weiteren war ein Vietnam-Kongress für den 17.2 und 18.2 geplant, auf dem der Krieg der USA in Südostasien verurteilt werden sollte.

Bürgermeister Klaus Schütz geriet immer mehr unter den Druck der Medien und auch von vielen Mitgliedern des Senats, die nun endlich Taten sehen wollten. Er glaubte, er könnte seine Entschlossenheit und Härte unter Beweis stellen, wenn es ihm gelingen würde, beide Veranstaltungen zu verbieten. Dies war allerdings gar nicht so einfach. Seine Ankündigung, mit Hilfe einer neuen Disziplinarordnung unliebsame Studenten zu entfernen, existierte nur als Wunschvorstellung, denn dies stellte einen elementaren Eingriff in die Autonomie der Universitäten dar und war nicht so ohne weiteres zu realisieren. Vorschnell jubelte daher die BZ „Schluss mit Terror und Gewalt“. Das Springer-Hearing war nicht im Handstreich zu verbieten. Der Rektor der TU, Professor Weichselberger, weigerte sich, ein Raumverbot für das Springer-Hearing zu verhängen, so dass die Veranstaltung doch stattfinden konnte.

Nach dieser Schlappe scheiterte auch der zweite Versuch, den Vietnam Kongress zu verbieten, ebenfalls kläglich. Ein Verbot des Senats wurde vom Verwaltungsgericht wieder aufgehoben, der Kongress konnte in der TU stattfinden. Auch die Juristenschelte von Klaus Schütz: „Ich muss um Verständnis für die Richter werben…Wir müssen uns aber fragen, ob wir ihnen die richtigen Gesetze an die Hand gegeben haben“, änderte daran nichts mehr.

Diese doppelte Niederlage der offiziellen Politik machte deutlich, das mit den üblichen juristischen und politischen Verfahren die APO nicht zu besiegen war.

So schien es an der Zeit zu sein, das „gesunde Volksempfinden“ zu mobilisieren, eine Art Anti-APO ins Leben zu rufen, die notfalls auch vor illegalen Methoden nicht zurückschrecken würde.

Am Ende des Vietnam-Kongresses organisierten die Veranstalter am 18.2. eine Demonstration mit ungefähr 12.000 Teilnehmern. Diese fanden sich bald von Gegendemonstranten attackiert, die am Kurfürstendamm den Vietkong-Anhängern Plakate und rote Fahnen entrissen, um diese anschließend anzuzünden. Am Bahnhof Zoo warteten etwa 1.000 Anti-APO Anhänger, die Parolen riefen wie: „Lieber tot als rot“ – „Dutschke raus aus West-Berlin“ – „Weg mit der Mauer“. Verantwortlich zeichnete sich für diese Gegendemonstration eine „Peter-Fechter-Widerstandsbewegung“* und eine „Organisation ehemaliger politischer Häftlinge aus der Zone“. Als die Gruppen aneinandergerieten, kam es glücklicherweise nicht zu schweren Zwischenfällen. Anschließend zogen sie zum John F. Kennedy Platz, wo Senator Neubauer ihnen seinen Dank erwies.

Am nächsten Tag feierte die BZ am 19.2. die Gegendemonstranten mit Schlagzeilen wie „Das war den Berlinern zuviel“ – „Spontane Gegen-Demonstration“ – „Arbeiter verbrennen rote Fahnen“ – „Polizei musste SDS-Haus schützen“. Dass diese Aktionen keineswegs legal waren, spielte nun keine Rolle mehr. Personen, die Schlägereien provoziert hatten, mussten sich jetzt bestätigt fühlen und brauchten keinerlei Skrupel zu haben.

Die Gegendemonstration signalisierte dem Senat und dem Springer-Konzern, dass die Strategie einer Mobilisierung des Volkszorns durchaus erfolgversprechend schien. Klaus Schütz bezeichnete die linke Studentschaft als „Krawallakteure“ und „Halbchinesen“ (Landespressedienst Nr.36, 19.2.1968), mit denen man schon fertig werden würde und goss damit noch mehr Öl ins Feuer.

Am 21.2. sollten nun in einer eindrucksvollen Demonstration aller gesellschaftlichen Gruppen in Westberlin gezeigt werden, das Senat und Bevölkerung gegen diese „kleine radikale Minderheit“ zusammenstehen und entschlossen waren, gegen die Störenfriede vorzugehen. Schütz kündigte an: „Die Bevölkerung werde demnächst auf einer eigenen Kundgebung Gelegenheit erhalten, sich zu äußern, was sie über die innere Ordnung in der Stadt denke.“ (Tagesspiegel 18.2.1968). Dazu bekamen sie am 21. Februar 1968 ausreichend Gelegenheit.

Ein SPD-Bundestagsabgeordneter namens Klaus Peter Schulz hatte eine „Aktion Demokratisches Berlin“ initiiert, die jetzt die Organisation der Anti-APO in die Hand nahm. In der BZ am 20.2. ließ sie verbreiten: „Morgen heißt es Farbe bekennen. Die Aktion Demokratisches Berlin hat jeden Bürger zur Teilnahme aufgerufen.“

Damit die Demonstration auch wirklich ein Erfolg wurde, musste alles aufgeboten werden, was verfügbar war: Arbeitsbefreiungen, Verkehrsumleitungen, Sonderlinien der öffentlichen Verkehrsmittel. Die Zentrale Vereinigung Berliner Arbeitgeber forderte alle Berliner Arbeitgeber auf, Kundgebungsteilnehmer rechtzeitig zu beurlauben. Die Industrie-und Handelskammer und die Handwerkskammer schlossen sich an. Auch der DGB erklärte sich solidarisch, die Gewerkschaften wollten nicht außen vorstehen. Insbesondere die ÖTV wurde aktiv. Die Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes wurden zur Teilnahme an Zügen zur Kundgebung vom Dienst befreit. Die Berliner Stadtreinigung nahm geschlossen teil, Überstunden wurden vom Staat bezahlt. Der Deutsche Beamtenbund forderte alle Mitglieder zur Teilnahme auf, die SPD appellierte an ihre Anhänger, Jungsozialisten und Junge Union riefen die Jugend Berlins zur Teilnahme auf. Auch die Deutsche Angestellten Gewerkschaft wollte mitmachen, ebenso der Interessenverband Westberliner Grundstücks- und Geschäftseigentümer (Ostgeschädigte) e.V. Die Mobilmachung war total, niemand sollte sich verweigern, ganz Westberlin stand geschlossen gegen die radikale Studentenschaft.

Auf der Kundgebung verurteilte der DGB-Vorsitzende Sickert entschieden die roten Demonstranten: „Was in den vergangenen Wochen und Monaten lärmend und randalierend über den Kurfürstendamm und durch andere Straßen zog - das war nicht Berlin. Berlin ist hier!“

Und der regierende Bürgermeister Schütz bekräftigte dies: „Was ist die Lage? Bei uns versucht eine kleine Gruppe von Extremisten den freiheitlichen Rechtsstaat handlungsunfähig zu machen…Unsere Antwort: Schluss damit! Berlin ist und wird kein Tummelplatz für politische Rowdies!... wir lassen uns nicht ständig provozieren.“

Allein von der Menge der Beteiligten her gesehen, war die Gegendemonstration ohne Zweifel ein voller Erfolg. Ein eindrucksvolles gesellschaftliches Bündnis hatte sich gebildet, um den Studenten Paroli zu bieten. Die Initiatoren des Vietnam-Kongresses waren stolz auf die 12.000 Teilnehmer an ihrer Antikriegsdemonstration vom 18. Februar gewesen, verglichen mit der Senatsdemo war dies aber nur eine bescheidene Größe. Die APO musste erkennen, dass sie wirklich nur eine kleine radikale Minderheit darstellte und die Anti-APO ihnen um ein Vielfaches überlegen war.

Doch es entstand keine dauerhafte, konservative Gegenbewegung, das gesamtgesellschaftliche Bündnis zerfiel anschließend wieder. Die wenigsten Berliner hatten Lust und Zeit, sich dauerhaft gegen die Linken zu organisieren und überließen den Kampf gegen SDS und Sympathisanten wieder den traditionellen politischen Eliten und der Polizei. Die Anti-APO besaß keine positiven Forderungen für eine dauerhafte, konservative Politik, die attraktiv gewesen wären. Lediglich das Beharren auf „Recht und Ordnung“ und das Schimpfen auf „Krawallmacher“ reichten nicht aus für eine tragfähige, längerfristige Strategie.

Der Bürgermeister hatte sich allerdings in den Augen der Springer-Presse durchaus bewährt und seine früheren Schlappen wurden ihm verziehen, so dass er seine Politik, die gerichtet war auf die Isolierung der radikalen Studentenschaft, weiter betreiben konnte.

Durch Demonstrationen der Linken und der Anti-APO hatte sich aber das politische Klima in der Halbstadt völlig vergiftet und so konnte es passieren, dass der Studentenführer Dutschke von einem jungen, politisch rechts stehenden Mann, angeschossen wurde.

Längerfristig gesehen hatte die linke APO aber wesentlich mehr Erfolg als ihr rechtes Gegenstück. Dies lag sicherlich daran, dass ihre Forderungen nach einer Studienreform und einer neuen Ostpolitik tatsächlich berechtigt waren und im Trend der Zeit lagen. Hatte die SPD zunächst noch die „kleine, radikale Minderheit“ bekämpft, übernahm sie bald einige von deren Forderungen und schrieb sie auf ihre eigenen Fahnen.

In den nächsten Jahren schärfte sich der Blick der Öffentlichkeit hinsichtlich zahlreicher weiterer Missstände in der Gesellschaft, wie z.B. der Diskriminierung von Frauen trotz formaler Gleichheit, der Kriminalisierung von Homosexualität, der zunehmenden Umweltverschmutzung. Die APO hatte den Grundstein dafür gelegt, um die Bundesrepublik neu zu erfinden und zu modernisieren. Dies wurde bald von immer mehr Menschen erkannt und entzog damit einer rechten Gegenbewegung allmählich die Basis. Insofern ist die APO ein wichtiger Baustein für die bundesrepublikanische Gesellschaft geworden, was man von ihrem Gegenpart allerdings nicht sagen kann."

*Peter Fechter wurde 1962 bei einem Fluchtversuch aus der DDR an der Berliner Mauer von Grenzsoldaten aus der DDR erschossen.


Grundlage für den Aufsatz ist das Buch: Februar 1968.Tage die Berlin erschütterten, Frankfurt am Main 1968
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Renegat hat geschrieben:Muß man denn eine Ahnung vom real existierenden Sozialismus haben, um linke Ideen als Gegengewicht zum Kapitalismus zu nutzen?
Ja, sollte man, um zu wissen, welche linken Ideen auf welche Schwierigkeiten in der Realisierung stossen und welche Nachteile haben und um Alternativen entwickeln zu können. Und um Fehler nicht zu wiederholen. Der "grosse Sprung" von Mao war eigentlich eine Neuauflage des Holodomor. Sonst wird die Kritik zum reinen Rumgemotze.
Renegat hat geschrieben:Das ist doch ein Totschlagargument mit ganz langem Bart "Geht doch rüber in die DDR" :?:
Kommt drauf an, in welcher Diskussion es wie verwendet wird. Mir als Exiltschechoslowaken und klarem Antikomunist störte, mit welcher Vehemenz man immer wieder die USA kritisierte, den Osten aber idealisierte, später zum Thema Osteuropa eigentlich am liebsten schwieg. Oder bei Bedarf betonte, dass auch Stalin seine guten Seiten hatte. Und Mao erst recht. Oder auch für die RAF Terroristen "Verständnis" aufbrachte.

[quote="Renegat"Ein allgemeiner Zusammenhang von antiautoritärer Erziehung und Egoismus ist mir zu platt. Was genau verstehst du darunter und wie breit wurde so erzogen, gerade im Westen, wo es ene Vielzahl an Erziehungsformen und -institutionen gab?[/quote]
Sicher gab es das, aber ich war an einem Gymnasium wo viele linke Ideen herumgeisterten und es hat den Leuten nicht gut getan. Ansonsten kritisiere ich Erziehung, die weniger Rücksichtnahme auf Andere fördert und zu mehr Selbstbezogenheit führt. Kritische Einstellung zu Autoritäten kritisiere ich nicht, im Gegenteil, ich mag Autoritäten, die Ihrer Rolle nicht gerecht werden, oder sie gar missbrauchen, gar nicht. Wer gegen sowas Widerstand leistet, hat immer meine Sympathie.
dieter hat geschrieben:Ich erkläre mal, wie es vor 1968 war. In der Schule wurde noch geschlagen, trotzdem das vom Hess. Kultusminister verboten war. Unsere Seilschaften von alten Nazis und Offizieren hielten sich nicht daran. Was soll man machen :?: Sich beim Rektor beschweren :?: Der war selber ein alter Nazi. Habe das mal durchexerziert. Mein Mathelehrer gab mir eine Sechs in Algebra, weil ich einen algebraischen Satz nicht konnte und ich trotz Lehrmittelfreiheit in Hessen kein Algebra-Buch bekam und auch keins zu kaufen war. Beschwerte mich also beim Rektor, der Mathelehrer mußte die Sechs zurücknehmen, schikanierte mich aber dann laufend, so bekam ich bei einer Klassenarbeit für eine gelöste Aufgabe eine Drei für eine Fehlerhafte eine Sechs, so dass ich zum Schluß mit einer Vier zufrieden sein mußte. Es gab noch andere Schikanen, die ich alle nicht aufzählen will. Gott sei dank ging er an eine deutsche Schule in das damals noch fachistische Spanien. :roll:
Ich glaube. solche Erfahrungen hat noch so mancher gemacht, ich wurde 1971 in der Schweiz eingeschult, der Primarlehrer schlug nicht, zerrte aber schon dann und wann am Ohr. Manipulationen mit Noten, das habe ich dann auch immer mal wieder erlebt, aber es dürfte sich im Rahmen bewegt haben. Ich hatte dann auch einen linken Lehrer und der versuchte schon uns politisch zu "erziehen", auch unter Einsatz von Noten, aber mit mässigem Erfolg. Er hat mir aber nicht nur schlechte Noten gegeben.
Renegat
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Renegat hat geschrieben:Die linken Ideen in der BRD führten zu sozialer Marktwirtschaft, Bafög, Gewerkschaften, Tariflöhnen, Betriebsräten und vielen anderen sozialen Errungenschaften und das alles hatte überhaupt nichts mit einer totalitären Diktatur zu tun.
Barbarossa hat geschrieben:Und wer hat das alles eingeführt? Der Vater der sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland nach dem Krieg war doch Ludwig Erhard (CDU) und der war alles andere als ein linker Politiker. Also ist das auch schlecht ausschließlich auf linke Ideen zurückzuführen. (Ok, die Einführung des Bafög fiel in die Brandt-Zeit.)
Das gleiche gilt auch für die Sozialversicherung, die Bismarck eingeführt hat.
Für mich ist es also nicht einmal so ganz eindeutig, ob linke Politiker wirklich so große Anteile an den sozialen Errungenschaften in D. haben, oder ob sie das nur besonders laut für sich reklamieren.
Das ist die klassische, historische Betrachtung, wo meist trockene Fakten, Daten, Namen vermittelt werden und man nicht nach den Hintergründen fragt.
Ich will hier jetzt nicht Bismarck diskutieren, er ist aber ein gutes Beispiel, wie ein solcher Ausgleich unterschwellig funktioniert. Bismarck hat die Sozialversicherung ja nicht im luftleeren Raum eingeführt, sondern weil er schlimmeres verhüten wollte, nämlich Revolution oder weiteres Erstarken von SPD und KPD. Da hat er pragmatisch ein bißchen gegeben, um viel zu behalten.
Ähnlich kann man die politische Nach-68-Phase betrachten. Es geht gar nicht darum, wer was für sich reklamiert, sondern ob Gegenströmungen als stark genug empfunden werden, um ein Umdenken oder Entgegenkommen zu bewirken, wie bei Bismarck.
Renegat hat geschrieben:Auf Demokratie und Freiheit wollten die wenigsten 68-er verzichten, behaupte ich mal, wären sie ja schön blöd gewesen. Das bißchen linke Jugendbewegung, vor allem in den Nachwirkungen, hat die häßlichen Auswüchse des Kapitalismus ein wenig in Schach gehalten.
Barbarossa hat geschrieben:Na ja, da gab es wohl sehr unterschiedliche Strömungen. Die radikalsten von ihnen schlossen sich ja zur RAF zusammen und die hatten mit Freiheit und Demokratie wirklich nichts im Sinn. Das darf man auch nicht vergessen.
Mir geht es um die Breitenwirkung, die RAF gehört da nun wirklich nicht rein oder höchstens als schädliches Gegenargument der konservativen Seite, mit dem man die sozialliberalen Positionen wieder zurückdrängte in den 80-er Jahren.
Renegat hat geschrieben:Bis ihr Ossis uns in Parade gefahren seid, ihr seid schuld, dass der Kapitalismus jetzt euphorisch ohne Rücksicht seinen Triumph feiert. :D
Barbarossa hat geschrieben:Na danke schön! Unsere Selbstbefreiung vom Joch war also euer Verderben, ja? :?
Ihr seid also nicht allein schuld. :D
Barbarossa hat geschrieben:Zum Glück meinst du das nicht ernst, aber ich fürchte, bei viel zu vielen bleibt ganau das hängen, weil mit dem Untergang des Ostblocks und dem Fall des Eisernen Vorhangs die Globalisierung so richtig in Schwung kam. Und die Globalisierung war wohl der Hauptgrund für so manche Verwerfung.
Ich sage ja auch nicht, dass es nur eine Ursache gibt, es geht mir um politisches Klima und Zeitgeist allgemein.
Der von Dir, Barbarossa, weiter oben angeführte Erhardt und die soziale Marktwirtschaft ist in den 50ern die westliche Antwort auf den damals noch jungen kalten Krieg gewesen, genau wie der Marshallplan. Man wollte verhindern, das weitere Länder zum Kommunismus wechselten. Inwieweit der schon in den 50ern als totalitär gesehen wurde, entzieht sich meiner Kenntnis, ist hier auch nicht Thema. Vielleicht sorgte man auch vorsorglich für zufriedene Bürger, weil man aus Versailles gelernt hatte. Den Amerikanern in ihrer McCartthy-Ära ging es mit Sicherheit um Einflusssphären.
:D Vielleicht sind ja auch die Tschechen schuld an den 68-ern, weil spätestens die, im Prager Frühling den Ostblock entlarvt hatten. :D
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Peppone
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Renegat hat geschrieben: Der von Dir, Barbarossa, weiter oben angeführte Erhardt und die soziale Marktwirtschaft ist in den 50ern die westliche Antwort auf den damals noch jungen kalten Krieg gewesen, genau wie der Marshallplan. Man wollte verhindern, das weitere Länder zum Kommunismus wechselten.
Mag ein Grund gewesen sein, aber wichtiger war der soziale Hintergrund. Die CDU (und noch mehr die CSU) hatte anfangs in ihrem Programm richtiggehende sozialistische Inhalte drin stehen, Verstaatlichung von (Schlüssel)Industrien und so was. Dass aus Eigentum Verantwortung erwächst stedht immer noch im Grundgesetz.
Gerade die Christdemokraten wollten einen Neuanfang nach den verfluchten 12 Jahren, und zwar unter chrisltichen Vorzeichen, wozu auch soziales Gedankengut gehörte.
Außerdem hatte Erhard erkannt, dass seine Art des Wirtschaftens der Wirtschaft förderlich sein konnte, der hatte damals ganz genau Vor- und Nachteile des Kapitalismus analysiert und daraus seine Schlüsse gezogen.

Beppe
Renegat
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Peppone hat geschrieben:
Renegat hat geschrieben: Der von Dir, Barbarossa, weiter oben angeführte Erhardt und die soziale Marktwirtschaft ist in den 50ern die westliche Antwort auf den damals noch jungen kalten Krieg gewesen, genau wie der Marshallplan. Man wollte verhindern, das weitere Länder zum Kommunismus wechselten.
Mag ein Grund gewesen sein, aber wichtiger war der soziale Hintergrund. Die CDU (und noch mehr die CSU) hatte anfangs in ihrem Programm richtiggehende sozialistische Inhalte drin stehen, Verstaatlichung von (Schlüssel)Industrien und so was. Dass aus Eigentum Verantwortung erwächst stedht immer noch im Grundgesetz.
Gerade die Christdemokraten wollten einen Neuanfang nach den verfluchten 12 Jahren, und zwar unter chrisltichen Vorzeichen, wozu auch soziales Gedankengut gehörte.
Außerdem hatte Erhard erkannt, dass seine Art des Wirtschaftens der Wirtschaft förderlich sein konnte, der hatte damals ganz genau Vor- und Nachteile des Kapitalismus analysiert und daraus seine Schlüsse gezogen.

Beppe
Kann gut sein, will ich nicht abstreiten. Sollten wir vielleicht besser beim Wertewandel weiterdiskutieren. Caritas, Nächstenliebe, Armenfürsorge ist in fast allen Religionen verankert. Im Islam funktioniert sie teilweise noch ganz gut. Wo sie funktioniert, mildert sie die Auswüchse der sozialen Ungleichheit. Allerdings anders als im theoretischen Marxismus/Sozialismus, der ja auf die Korrektur von ungleichen Besitzverhältnissen abzielt. Dort ist es ein Recht, in der Religion eine Gnade, ziemlich vereinfacht formuliert. Gehört aber eher in den Religionsthread, denn mit Religion hatte die Nach-68-Phase wenig zu tun, auch nicht mit religiösen Argumenten. Tagesaktuell könnte man sogar ein kleines religiöses Revival verzeichnen, versucht durch Pabst Franziskus, ob das funktioniert?
Auf jeden Fall ist es wichtig, dass du auf die "Verpflichtung des Eigentums zum Wohle der Allgemeinheit" hinweist, ist ziemlich in Vergessenheit geraten.
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