Die Sowjetunion, die 2+Vier-Verträge & NATO-Osterweiterung: Teil 2

Informationen und Diskussionen, aktuelle Ereignisse, politische und wirtschaftliche Hintergründe

Moderator: Barbarossa

andreassolar
Mitglied
Beiträge: 259
Registriert: 10.03.2023, 21:48

Der damalige sowjetische Außenminister Schewardnadse postuliert beispielsweise im Gespräch mit Genscher am 11. Juni 1990 in Brest die zwei sowjetischen Hauptvorstellungen hinsichtlich des Mitgliedschaft e. geeinten Deutschland in Militärbündnissen:
  • Vereinigung Deutschlands wird begleitet vom Austritt aus NATO & WP, zumindest aus deren militärischer Organisation
  • geeintes Deutschland bleibt Mitglied in beiden Militärbündnissen, die zugleich möglichst eine Auflösung oder tiefe Transformation anstreben
Ab dem Baker-Gespräch mit Gorbi am 9.2.90 wird erstmalig erkennbar, dass die sowjetische Führung eine weitere NATO-Präsenz auf BRD-Gebiet im geeinten Deutschland akzeptieren könnte - stets, wie sich in den folgenden Tagen und Wochen zeigt, mit der Vorstellung einer symetrischen weiteren Präsenz von WP- bzw. sowjetischen Truppen auf DDR-Gebiet gekoppelt, für eine Übergangszeit, derweil Truppenabbau u. Abrüstung vorangetrieben werden, bis zur Auflösung militärischen Bündnisstrukturen u. Ersatz durch politische.

Eine Dauermitgliedschaft des geeinten Deutschland in beiden Bündnissen war damit also keinesfalls (mehr) gemeint, hatte Gorbi Kohl am 10.2.90 gegenüber entsprechend klar als unseriös bezeichnet.




Dass die angebliche Zusage einer Nicht-Ausdehnung der (militärischen) NATO auf DDR-Gebiet, immer verbunden mit der NATO-Mitgliedschaft eines Gesamtdeutschland, in keinem Fall von der sowjetischen Seite
  • als Zusage
  • verbindliche, gemeinsame Erklärung usw.
aufgenommen, anerkannt, auch nicht als akzeptabler Vorschlag, akzeptable Idee anerkannt wurde, demonstriert beispielweise Valentin Falin im Interview mit dem SPIEGEL vom 18. Februar 1990 mit Aussagen u.a.:

SPIEGEL:
Sie sie auch unvereinbar mit der von Herrn Genscher entwickelten These, das halbe Deutschland solle in der NATO bleiben?
Falin:
Wären diese Varianten akzeptabel, die Herr Genscher und Herr Bush formulierten, könnten wir uns vice versa die Entwicklung auch so vorstellen: Ein ganzes Deutschland oder die eine Hälfte ist ein Teil des sowjetischen Sicherheitssystems. Das wäre auch ein Versuch,, Deutschland zu binden und es daran zu hindern, einen Alleingang zu riskieren. Da würden sie uns sicher sagen: nein, das geht nicht. Wenn sie dem anderen aber zumuten gutzuheißen, was sie selbst nicht zu akzeptieren bereit sind, ist das keine korrekte Haltung. [...]
SPIEGEL:
Denken sie denn, daß eine Gefahr von deutschem Boden ausgeht, wenn ein Teil Deutschlands in der Nato bleibt?
Falin:
[...] Wenn heute in einem Teil Deutschlands die militärische Institution - egal, wie sie genannt wird - weiterexistiert und die im anderen Teil verschwindet, wird das Gleichgewicht der Interessen verletzt. Dann, bitte sehr, sind die Folgerungen klar.​


Hier wird nochmals deutlich, die wichtigste Positionierung Genschers in Tutzing war die erstmals ausdrücklich von einem bundesdeutschen politischen Entscheidungsträger öffentlich postulierte Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland in der NATO, und der Verbleib der militärischen Strukturen der NATO auf dem BRD-Gebiet. Die Idee einer Nicht-Ausdehnung der militärischen NATO-Strukturen auf DDR-Gebiet war damit unisono für die sowjetische Seite uninteressant, inakzeptabel.

Das verdeutlichen auch entsprechende Bemerkungen Schewardnadses im Gespräch mit Genscher in Windhoek, Namibia, am 22. März 1990, u.a.:

Schewardnadse:
[...] Dann gebe es noch die Idee des BM [Bundesminister; = Genscher], daß die NATO ihr Gebiet nicht ausdehne. Er halte diesen Gedanken gegenwärtig nicht für eine aussichtsreiche Überlegung. Unter Umständen sei es vielleicht auch angezeigt völlig neue, unkonventionelle Lösungen in Erwägung zu ziehen. [...]​

Q: Andreas Hilger (Hrsg.), Diplomatie für die deutsche Einheit (2011), S. 116.


Auch später wurde von sowjetischer Seit diese Idee praktisch nie aufgegriffen, akzeptiert, thematisiert, sie wurde, wie gezeigt, als Idee, als Gedanken, als Formulierung bezeichnet.




Die vermeintlichen Ungereimtheiten bei Genscher
Zu den nachträglich im Neuen Narrativ ebenfalls immer wieder unterstellten 'Ungereimtheiten' gehört u.a. die Mär, Genscher habe in der Tutzinger Rede am 31.1.90 nicht nur die Nicht-Ausdehnung der NATO auf DDR-Territorium 'versprochen', sondern damit auch die sicherheitspolitische Nicht-Integration des DDR-Gebietes unter den Schutzschirm der NATO entsprechend dem Beistandsartikel 5 der NATO-Konvention von 1949.
  • Das habe Genscher später etwa in seinen Erinnerungen (1995) fälschlicherweise geleugnet
  • und/oder der Nationale Sicherheitsrat der US-Administration bzw. zwei Mitglieder des Sicherheitsrates bei genauer Prüfung der 'Tutzinger Formel' erkannt, die Genscher bei seinem Besuch am 2. Februar 1990 in Washington US-Außenminister Baker zumindest in groben Zügen vermittelt habe, nach Genscher Abreise. Und entsprechend reagiert, u.a. mit einem korrigierenden Brief von Präsident Bush an Bundeskanzler Kohl.
Beides trifft nicht zu. Die Tutzinger Rede sowohl insgesamt wie in den entsprechenden Passagen - meist wird nur jener eine Satz der Nicht-Ausdehnung angeführt - lassen keinen Zweifel, dass Genscher Gesamtdeutschland in der NATO sehen wollte und eine Neutralität in jeder Form ablehnt. Die Nicht-Ausdehnung der NATO auf DDR-Gebiet bezog sich entsprechend nur auf die militärischen Strukturen. Und nicht auf die sicherheitspolitischen Beistandsverpflichtung gemäß Art. 5 für das DDR-Gebiet nach der Vereinigung.

Innerhalb der NATO in Brüssel war das offenkundig auf Führungsebene jedem klar. Genauso war offenbar allen klar, dass die Genscher-Formel militärisch ein großer Gewinn für die NATO wäre, auch mit einer Nicht-Ausdehnung der militärischen Strukturen der NATO auf DDR-Gebiet. Denn in NATO-Hauptquartier war anscheinend genauso evident, dass die sowjetische Armee in der DDR entlang der Genscher-Formel nicht mehr verbleiben konnte, unabhängig davon, dass sie vielleicht erst in wenigen Jahren vollständig abgezogen sein könnte.

Das zeigt jedenfalls der abgedruckte Bericht des bundesdeutschen NATO-Botschafters in Brüssel, von Ploetz, vom 9.2.90, ausdrücklich mit Bezug auf Genschers Tutzinger Rede. (Q: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1990 (2021), S. 136-139):

So notiert der Bericht u.a. (S. 137 f.), die von Genscher vorgenommene Differenzierung zwischen der Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands zu Allianz und damit zur kollektiven Verteidigungszusage der NATO für das Gesamtterritorium, und einer Nichterweiterung der Militärorganisation der NATO werde als vielversprechend angesehen, weil sie einen grundsätzlichen sicherheitspolitischen Statusunterschied vermeiden würde.
andreassolar
Mitglied
Beiträge: 259
Registriert: 10.03.2023, 21:48

Mary Sarottes Not one inch kann bei diesen Punkten entsprechend und erwartungsgemäß gleichfalls wenig überzeugen.


Genschers Tutzinger Rede wird erneut rudimentär, lückenhaft und verzerrt referiert. Die Vorgeschichte der Tutzinger Rede wird, wie von Sarotte andernorts schon dargestellt, nicht zutreffend vor allem mit einem Memo vom 31.1.90 des AA-Referatsleiter Klaus Neubert in Verbindung gebracht.

Neubert habe lt. Sarotte Gorbatschows Bemerkungen bei einem Presse-Fototermin mit DDR-Ministerpräsident Modrow am 30.1.90 im Moskau, die deutsche Einheit sei nicht mehr zweifelhaft, in jener Notiz vom 31.1.90 für Genscher euphorisch überinterpretiert - was unmittelbare Auswirkungen auf Genschers Rede in Tutzing gehabt habe.

Schon mit kurzer Überlegung fällt auf, dass Neubert seine Notiz am 31.1. erstellt und an Genschers Büro geschickt hatte und Genscher die Rede in Tutzing ebenfalls am 31.1. gehalten hat.
Bereits zeitlich kaum möglich und nicht plausibel, verschleiert Sarotte das Zeitproblem damit, dass sie Gorbatschows Bemerkungen explizit mit Datum 30.1. erwähnt, doch Neubert erstellt seine Notiz bei Sarotte 'am nächsten Tag'. Zwei Abschnitte, 21 Zeilen weiter und damit auf der nächsten Buchseite, kommt die Tutzinger Rede am 31.1. dran.....

Frank Elbe, damals Genschers Büroleiter und Redenschreiber, war der Mitautor der Tutzinger Rede und hatte wesentliche Punkte/Elemente in einem Memo vom 28 (?).1.90 notiert.
Dass Elbe Mitautor gewesen war, ist dem bereits 1993 erschienen, auch von Sarotte referierten Titel Kiessler/Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken, S. 85, zu entnehmen.



Der Faden thematisiert, ob beispielsweise Genscher beispielsweise in Tutzing primär die Nichterweiterung der NATO 'zugesichert' habe, jenes angeblich gebrochene Versprechen.
  • A: Dazu siehe diverse Beiträge oben, welche u.a. die Tutzinger Rede ausführlicher und kontextbezogener und damit deutlich abweichend vom neuen Narrativ u.a. bei Sarotte, aber im Anschluss an die früheren, ursprünglichen Inhalte vorstellen.
  • B: Bereits am 28.1.90 hatte die BamS ein Genscher-Interview teils verkürzt abgedruckt, in welchem Genscher bereits vor einer Ausweitung der militärischen NATO-Strukturen auf das DDR-Gebiert warnte. Das war schon (vermeintlich) Tutzing.
  • C: Elbe, Redenschreiber Genschers und Mitautor von Genscher Tutzinger Rede, hatte wesentliche Punkte, u.a. Nichterweiterung der NATO-Strukturen auf DDR-Gebiet, entsprechend wenige Tage vor Genschers Tutzinger Rede zusammengefasst.

Sarotte versucht mit Neubert eine superkurzfristige Entscheidung aufgrund einer - angeblichen - Überinterpretation durch Neubert zu konstruieren, um wieder mal zu belegen, dass Genscher in Tutzing die Nichterweiterung der NATO versprochen habe?

Sarotte stellt dies in No on inch, S. 48, so dar:

On the day Neubert advised him about Gorbachevs "vote" for unity, the foreign minister apparently decided i was time to go public with how he would make good on that promise. In a January 31,1990 speech in Tutzing he advised Germany's allies to adopt an accommodating attitude to Moscow in the interest of making unification happen. He wanted NATO to "state unequivocally that whatever happens in the Warsaw Pact, there will be no expansionof NATO territory eastward, hat it so say, closer to the borders of the Soviet Union.​


Dienstwege und Zeitlücken
Der Text der Autorin vermeidet auch hier, den Tag der Abfassung von Neuberts Vorlage für Genschers Büro anzugeben, den 31.1.
Folgt man Sarotte, so hat Genscher aufgrund Neuberts Notizen zum vermeintlichen Versprechen von Gorbatschow hinsichtlich der Vereinigung beschlossen, in Tutzing mit einer Rede aufzutreten, die darlegen sollte, wie das Versprechen der Einheit eingelöst werden könnte. Durch das Versprechen der Nichterweiterung der NATO.

Genschers Rede fand am 31.1. in Tutzing statt - kein Problem für einen Außenminister, morgens das Memo Neuberts vorgelegt zu bekommen, es geschwind zu lesen, spontan sich nach Tutzing einzuladen, alle anderen Termine abzusagen, mit Elbe eine Rede aus dem Ärmel zu schütteln, so auf dem stundenlangen Weg nach Tutzing. :wink:

Neubert hat die von seinen Mitarbeitern Stüdemann und Brett mit Datum vom 31. Januar 1990 verfasste Vorlage zur Unterrichtung für Außenminister Genscher unterschrieben und mit dem regulären Dienstweg über den Leiter der Unterabteilung, Höynck, dem Leiter der Politischen Abt., Kastrup, und Staatssekretär Sudhoff ans Büro von Genscher geschickt. Die Vorlage zur Unterrichtung dürfte 5-6 Word-Seiten lang sein, um mal die Größenordnung anzudeuten.
Der reguläre Dienstweg umfasste mehrere Stationen (auch der Selektion durch die höherrangigen Beamten), bevor sie Genscher vorgelegt wurden.

Eine ebenfalls mit Datum 31. Januar 1990 verfasste Vorlage zur Unterrichtung des Bundesaußenministers hatte der Leiter des Referates 210, Lambach, unterschrieben, gleichfalls zu den Äußerungen Gorbatschows zur Deutschen Einheit vor dem Fototermin mit Modrow am 30.1.90 - mit identischem Dienstweg über Höynk zu Kastrup, von Kastrup zu Sudhoff, von Sudhoff an Genscher.
Frühestens am 1.2.90 hat die Vorlage Lambachs Genscher bzw. sein Büro erreicht haben, wie die Anmerkungen mit den notierten Empfangsdaten zum abgedruckten Text Lambachs in Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1990, 1. Teilband, S. 88, zeigen.


Und Sarotte hat die Stationen des Dienstweges, die bei der Neubert-Vorlage genannt werden, 'vergessen'....daher die 'Lücken' bei ihr? Und die Lambach-Vorlage? Hm.
Bei der Neubert-Vorlage gibt es anscheinend keine Eingangsstempel oder -Bestätigungen mit Datum....sieht so aus, als wäre das nicht über den nächsten Vorgesetzten, Höynk, hinaus gekommen....denn Neuberts Kollege Lambach, dessen Vorgesetzter ebenfalls Höynk war, hat sich dafür auf der Neubert-Vorlage mit einem Kommentar für Lamberts eigenen Mitarbeiter Brandenburg verewigt.....

Ansonsten sind die von mir rezipierten Vorlagen zur Unterrichtung des Bundesaußenministers stets (frühestens) erst am Tag nach dem Verfassungsdatum im Büro Genscher angekommen.....

Neuberts Vorlage zur Unterrichtung des Chefs, Bundesaußenminister Genscher, hat es also gar nicht bis zu Genscher geschafft. Selbst zeitlich wäre das unter normalen Dienstabläufen nicht am gleichen Tag, dem 31.1., möglich gewesen.

Am 31.1.90 hatte offenbar Neuberts Vorgesetzter Höynk vor Neuberts Vorlage schon eine vom Referatsleiter Lambach und dessen Mitarbeiter und Co-Autor Brandenburg erhalten zum gleichen Thema, Gorbatschows Bemerkungen zur dt. Einheit beim Fototermin mit Modrow am 30.1.
Höynk leitete daher Neuberts Vorlage offenkundig nicht weiter, sondern gab sie Lambach (zur Kenntnis/zum lesen), der Neuberts Vorlage wiederum mit einem Kommentar versah für seinen, Lambachs Co-Autor Brandenburg, und diesem dann Neuberts Vorlage zukommen lies bzw. hinterlegte.
Zuletzt geändert von andreassolar am 16.03.2023, 22:14, insgesamt 1-mal geändert.
Marianne E.
Mitglied
Beiträge: 1752
Registriert: 13.04.2019, 16:51

Ich möchte erfahren, und zwar ganz genau, welchen Dokumenten diese Beiträge entnommen wurden.
andreassolar
Mitglied
Beiträge: 259
Registriert: 10.03.2023, 21:48

Neuberts Vorlage
Neuberts Vorlage war ja auch schon mehrere Seiten lang - für die reine Info, Gorbatschow habe die deutsche Einheit beim Fototermin mit Modrow morgens am 30.1.90 in Moskau nicht mehr in Zweifel gezogen, waren und sind die Vorlagen zur Unterrichtung, welche gemeinsam von Referatsmitarbeitern ausgearbeitet werden, nicht gedacht, entsprechend auch Lambachs Vorlage. Die Vorlagen waren/sind Rückschauen, Bewertungen, Einschätzungen der Implikationen, die sich aus Gorbatschows Äußerung wahrscheinlich und möglicherweise auf allen möglichen Ebenen und Bereichen ergeben und ergeben könnten. Daher der reguläre Dienstweg zum Chef, welcher stets mindestens einen Tag beanspruchte.

Undenkbar, dass reine News-Meldungen solchen Kalibers wie Gorbatschows Bemerkungen in einer gemeinsamen Arbeit von Referatsmitarbeitern, die ja dauert, in einer Vorlage versteckt werden und auf die "reguläre Dienstreise" geschickt werden.:D Insofern führt Sarotte's entsprechender Abschnitt in Not one inch regelrecht in die Irre und löst zumindest bei mir Verwunderung aus.....


Nachrichten & Agenturmeldungen über Gorbis Bemerkung
Für die Meldung über Gorbatschows Bemerkung hatte es die Agenturmeldungen gegeben, die garantiert die Äußerungen Gorbatschows am Morgen des 30.1.90 beim Fototermin für die Presse in Windeseile gleicher Stunde, gleichen Tags verbreitet haben. Man kann sicher sein, dass Genscher als BRD-Außenminister und oberster Chef des Bonner AA umgehend am 30.1. davon Kenntnis erhalten hatte.
Das AA hat üblicherweise eine Nachrichtenabt., die direkt auch mit dem laufenden Strom von Agentur- und Pressemeldungen verbunden ist.
  • Die Tagesschau präsentierte noch am 30.1.90 in der 20h-Sendung, im Rahmen der Berichterstattung über den Modrow-Besuch in Moskau als ersten Beitrag, per Film-Aufnahme den vollständigen O-Ton Gorbatschows zur deutschen Einheit, samt Übersetzung, den er beim PresseFototermin vor Beginn der Gespräche abgegeben hatte.
  • Am nächsten Morgen, 31.1. hatten diverse Tageszeitungen die Story auf der Titelseite.

Die Tagesschau am 31.1.90 berichtet u.a. von Genschers Tutzinger Vorschlägen. Wieben verliest, Genscher habe sich auf einer Tagung der evang. Akademie Tutzing besonders gegen eine Ausweitung des militärischen NATO-Gebietes nach Osten gewandt, da dies das Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion berühren und damit die deutsch-deutsche Annäherung blockieren würde.

Sowohl der Bezug auf die militärischen NATO-Strukturen wie auch auf die deutsch-deutsche Annährung zeigen hinreichend, da damit im Beitrag der militärische Status des DDR-Gebietes gemeint war.

Dem folgt ein Einspieler mit O-Ton von Genscher in Tutzing:

Interviewer:
Herr Minister, keine militärische Ausdehnung der NATO auf des Gebiet der DDR, aber auch kein neutralisiertes Gesamtdeutschland, wie soll das Ihrer Meinung nach zusammen gehen?​

Genscher:
Deutschland wird Mitglied sein in der NATO, aber die Streitkräfte der NATO werden in dem Raum bleiben, in dem sie heute stehen; d.h., auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland.​

Der Interviewer fragt nun, ob Genscher diese Vorstellungen mit seinen Kollegen in der NATO abgesprochen habe.
Genscher gibt zurück, nein, das sei ein deutscher Beitrag zu kooperativen Sicherheitsstrukturen in Europa und der NATO gehe dabei ja nichts verloren, [...] die deutsche Einheit sei nicht zu haben, wenn es zu einer Kräfteverschiebung zwischen West und Ost komme. [...]

Nur der letzte Satzteil mit der Kräfteverschiebung lässt sich mit vertiefter Kenntnis als Hinweis auf Genschers Vorstellungen verstehen, dass es nicht nur um den militärischen Status des DDR-Gebiet ging.
Zuletzt geändert von andreassolar am 16.03.2023, 22:20, insgesamt 1-mal geändert.
andreassolar
Mitglied
Beiträge: 259
Registriert: 10.03.2023, 21:48

Editionen/Dokumentensammlungen, Quellen und wissenschaftliche Lit. sind angegeben...

Insgesamt jedenfalls, wenngleich nicht bei jeder weiteren nachfolgenden Referierung, vor allem bei hinlänglich etablierten Editionen u. GrundlagenTiteln, die oft genutzt wurden...siehe auch 1. Teil.
andreassolar
Mitglied
Beiträge: 259
Registriert: 10.03.2023, 21:48

Baker bemerkt bei seinem Gespräch mit Gorbatschow am 9.2.90 in Moskau u.a. (Q: Galkin u.a., Michail Gorbatschow und die deutsche Frage (2011), S. 312):

Wir verstehen, dass es nicht nur für die Sowjetunion, sondern auch für die anderen europäischen Länder wichtig ist, Garantien dafür zu haben, dass – wenn die Vereinigten Staaten ihre Anwesenheit in Deutschland im Rahmen der NATO aufrechterhalten – die Jurisdiktion oder militärische Präsenz der NATO in östlicher Richtung um keinen einzigen Zoll ausgedehnt wird. Wir sind der Meinung, dass die Konsultationen und Beratungen im Rahmen des „2+4“-Mechanismus Garantien dafür geben müssen, dass die Vereinigung Deutschlands nicht zu einer Ausdehnung der militärischen Organisation der NATO nach Osten führt.
Dies sind unsere Überlegungen.​


Auch hier ist der (wohl praktisch) ausschließliche Zusammenhang mit der deutschen Einheit bzw. mit dem DDR-Gebiet eindeutig genug:
  • sofern weitere Aufrechterhaltung der Anwesenheit der USA in Deutschland im Rahmen der NATO, ohne weitere östliche Ausdehnung
  • der Rahmen des 2+4-Mechanismus sind die geplanten Gespräche der Alliierten und der beiden Deutschland über die äußeren Bedingungen zur Herstellung der deutschen Einheit
  • eine Vereinigung Deutschland ohne Ausdehnung der militärischen Organisation der NATO nach Osten
Der letzte Satz, 'Dies sind unsere Überlegungen' entfällt sowieso konsequent im Neuen Narrativ.




Nochmals Baker-Gorbi am 9.2.90 in Moskau
Obwohl hier teilweise bereits referiert, nochmals retour zur anderen überlieferten Stelle des Gesprächs Baker-Gorbatschow vom 9.2., welches durchweg im Neuen Narrativ referiert und als Beleg für das angeblich 'gebrochene Versprechen', die NATO grundsätzlich künftig nicht nach Osten auszudehnen, notiert wird. (Q: Galkin u.a., Michail Gorbatschow und die deutsche Frage (2011), S. 315 f.)

M. S. Gorbacˇev:
[...]
Ich würde Sie bitten, dem Präsidenten zu sagen, dass wir mit
Ihnen Kontakt halten sowie Informationen und, wenn erforderlich, Ideen zu diesem Problem austauschen wollen.


J. Baker:
Das werde ich unbedingt tun. Ich möchte, dass Sie verstehen: Ich sage nicht, dass wir der Welle der Emotionen nachgeben sollen. Aber ich glaube, dass die innere Integration Deutschlands bald eine Tatsache sein wird. Unter diesen Bedingungen ist es unsere Pflicht vor den Völkern, unsere Pflicht um des Friedens in der Welt willen, alles Mögliche zu tun, um solche äußeren Mechanismen zu schaffen, die die Stabilität in Europa gewährleisten. Deshalb habe ich den genannten Mechanismus [2+4-GesprächsMechanismus zur Herstellung der äußeren Bedingungen der deutschen Einheit, Anm. von mir] vorgeschlagen.
Was den ökonomischen Preis der Vereinigung angeht, so wird diese Frage wahrscheinlich im Verlaufe des Wahlkampfs erörtert werden. Aber ich denke, sie wird vom emotionalen Überschwang, vom Drang der Menschen, sich zu vereinigen und zusammen zu sein, überspült werden.
Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, auf die Sie jetzt nicht unbedingt eine Antwort geben müssen. Vorausgesetzt, die Vereinigung findet statt, was ist für Sie vorzuziehen: Ein vereinigtes Deutschland außerhalb der NATO, vollkommen selbstständig und ohne amerikanische Streitkräfte oder ein vereinigtes Deutschland, das seine Verbindungen zur NATO aufrechterhält, aber unter der Garantie, dass die Jurisdiktion oder die Streitkräfte der NATO sich nicht über die derzeitige Linie nach Osten ausbreiten?

M. S. Gorbacˇev:
Wir werden dies alles durchdenken. Wir beabsichtigen, alle [S. 316] diese Fragen auf der Führungsebene gründlich zu erörtern. Selbstverständlich ist es klar, dass eine Ausdehnung der NATO-Zone inakzeptabel ist.

J. Baker: Wir stimmen dem zu.

M. S. Gorbacˇev:
Es ist durchaus möglich, dass in der Lage, wie sie sich jetzt gestaltet, die Anwesenheit der amerikanischen Streitkräfte eine mäßigende Rolle spielen kann. Es ist möglich, dass wir mit Ihnen gemeinsam darüber nachdenken müssen, wie Sie gesagt haben, dass ein geeintes Deutschland vielleicht Wege zur Aufrüstung, wie das nach Versailles der Fall war, zur Schaffung einer neuen Wehrmacht, suchen wird. In der Tat, wenn es sich außerhalb der europäischen Strukturen befindet, dann kann sich die Geschichte wiederholen. Das technische und industrielle Potential gestattet es Deutschland, dies zu tun. Wenn es im Rahmen der europäischen Strukturen existiert, dann kann man diesen Prozess verhindern. Über alles dies muss man nachdenken.​




Auch der vorlaufende Gesprächsabschnitt thematisierte ausnahmslos und direkt die deutsche Einheit, so wie der hier zitierte dies fortsetzt. Der größere, der unmittelbare und direkte Kontext belegt eindeutig genug, es ging und ging immer noch von Seiten Bakers um den Vorschlag der Nicht-Ausweitung der militärischen Strukturen der NATO auf das DDR-Gebiet im Zusammenhang mit einer kommenden deutschen Einheit, bei welchem das neue Gesamtdeutschland nach Bakers Vorschlag Mitglied der NATO ist bzw. wird.

Die inhaltlich Konsistenz, wie die Bedeutung der Formel von der Nicht-Ausweitung der NATO nach Osten im damaligen Kontext überwiegend gemeint gewesen war, verstanden und medial rezipiert/transportiert wurde, wird durch die vorstehenden Beiträge und diesen Beitrag hinreichend sichtbar.


Genschers gelegentliche Vorschläge
Genscher war der einzige der involvierten Spitzenakteure, welcher von sich aus gelegentlich und aus dem Kontext heraus identifizierbar/unterscheidbar eine generelle Nicht-Ausweitung der NATO vorschlug, natürlich immer vor dem Hintergrund mit seinen sonstigen Positionen:
  • Gesamtdeutschland in der NATO
  • Ablehnung eines neutralen Gesamtdeutschland
  • DDR-Gebiet nicht in der Militärstruktur der NATO
Die Formel der Nichtausweitung der NATO nach Osten nutzte Genscher wenige male ohne zusätzliche/weitere Differenzierung für beides, jedoch wiederum immer aus dem Kontext eindeutig erschließbar.
Diesen verifizierungsfähigen Kontext blendet das Neue Narrativ entsprechend aus.



Die von Genscher in der Tutzing-Rede am 31.1.90 u.a. vorgetragene Idee,

es sei Sache der NATO zu erklären, eine Ausdehnung des NATO-Territorium nach Osten, also näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, werde es nicht geben, ​

steht im betreffenden Abschnitt nicht alleine, denn er enthält darauffolgend wenige Sätze weiter ebenso Genschers explizite Ansicht, dass Vorstellungen, dass das Gebiet der DDR in die militärischen Strukturen der NATO einbezogen werden sollten, die deutsch-deutsche Annäherung blockierten.

Nicht nur, aber auch medial wurde damals praktisch ausnahmslos die Forderung Genschers, das DDR-Gebiet nicht in die militärischen Strukturen der NATO einzubeziehen, rezipiert, transportiert und verbreitet.

Und eben nicht nur medial wurde damals durchwegs die Formel der Nichtausweitung der NATO nach Osten mit der Nichtausweitung der militärischen Strukturen der NATO auf DDR-Gebiet identifiziert.

Das Thema der Zukunft des militärischen Status, der militärischen Zugehörigkeit des DDR-Gebietes in einem geeinten Gesamtdeutschland war damals die größte, schwierigste, brennendste und strittigste Frage. Sowohl das Gebiet der BRD wie der DDR waren die militärisch mit weitem Abstand wichtigsten Staaten der jeweiligen Militärbündnisse, konventionell, Truppen, atomar, militärstrategisch, teils auch politisch.


Nichts und niemand von den bedeutsamen Akteuren damals griff Genschers in diesem großen Zusammenhang leicht missverständliche Forderung nach einer (NATO-)Zusage der generellen Nichtausweitung des NATO-Territoriums von sich aus auf. Die Neutralisten nicht, die Einheitsgegener oder Wiedervereinigungsgegner (Günther Grass) nicht, schon gar nicht sozialistisch moderate oder orthodoxe Kräfte und Akteure nicht. Bahr nicht, Modrow, Brandt nicht usw. Die Medien praktisch auch nicht.
andreassolar
Mitglied
Beiträge: 259
Registriert: 10.03.2023, 21:48

Valentin Falin, der zu den Beteiligten an den Treffen und Verhandlungen zum Komplex der deutschen Einheit und den ausgeprägt orthodoxen kommunistischen Akteuren und scharfen Kritikern der Vorstellung einer NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands und Gorbatschows Kompromiss-Kurs ab Mai 1990 gehörte, notierte in einer Aufzeichnung für Gorbatschow mit Datum 18. April 1990, 'Fragen zur Deutschlandpolitik' (Q: Galkin/Tschernjajew, Michail Gorbatschow und die deutsche Frage (2011), S. 371 f.) u.a.:


Es erscheint dringend geboten, mit aller Entschiedenheit die sowjetische Position vor allem in den folgenden Fragen zum Ausdruck zu bringen:
[...]
2. Der militärische Status eines geeinten Deutschland. Allem Anschein nach hat der Westen beschlossen, in dieser Hinsicht eine Entscheidungsschlacht zu führen. Nach einer anfänglichen Verwirrung, während der einzelne, nicht unattraktive Ideen geäußert wurden (Rückzug der BRD aus der militärischen Organisation der NATO; gleichzeitige Beteiligung Deutschlands an der NATO und am Warschauer Pakt; Schritte zur Rüstungsbegrenzung auf deutschem Territorium, die das gesamteuropäische Tempo überschreiten sollten; eine mögliche, teilweise Entnuklearisierung Deutschlands u.a.) lässt sich von Woche zu Woche eine Verschärfung des Vorgehens von USA und BRD, aber auch der Führung des Atlantischen Blocks beobachten.
[S. 372]
Genscher denkt weiterhin ab und an über ein Forcieren der Entwicklung in Richtung einer europäischen kollektiven Sicherheit nach, in der „NATO und Warschauer Pakt aufgehen“ würden. Von ihm stammen auch Äußerungen darüber, dass die Abrüstung zum „Kern“ des gesamteuropäischen Prozesses werden müsse. Aber auf Genscher hört außer den westdeutschen Sozialdemokraten und linken Parteien in einigen Ländern des „Gemeinsamen Marktes“ kaum jemand.
Es stellt sich die Frage der Beteiligung Deutschlands an der NATO „in vollem Umfange“. Allein der Gedanke an einen Ausschluss des deutschen Territoriums aus der Infrastruktur des Blocks wird abgelehnt. Wenn früher in der Propaganda die Betonung auf eine „Kontrolle“ über ein künftiges vereintes Deutschland gelegt wurde, so bezieht man sich jetzt darauf, dass die Erhaltung der Effizienz des Bündnisses als „Faktor der Stabilität“ in Europa wichtig sei. Vor Kurzem wurde die Beteiligung Deutschlands an der NATO als „zwischenzeitliche Variante“ bezeichnet. Seit einiger Zeit jedoch präsentiert man sie als langfristige Lösung. Während sie bis März dieses Jahres den Preis für das „Zugeständnis“ – keine Ausdehnung des Wirkungsbereichs der NATO auf die DDR – angehoben haben, so begannen sie vor ungefähr einem Monat in ihrem Umfeld zu äußern, dass diese Verpflichtung in „Krisensituationen“ nicht anwendbar sei. ​



Unterstreichungen von mir.

Falin erwähnt nirgends, wie ebenso wenig in seinen zwei Büchern Politische Erinnerungen (1993) und Konflikte im Kreml (1997), es habe zuvor ein Zusage, ein verbindliches Angebot oder Ähnliches der generellen Nichtausdehnung der NATO nach Osten gegeben, von 'westlichen' Politikern/NATO-Akteuren.


NATO in der 1. Hälfte 1990
Die NATO war in der 1. Hälfte des Jahres 1990 u.a. intensiv und reichlich damit beschäftigt, in Relation zur SU/WP:
  • Abrüstungsgespräche zu diversen Arten der Atomwaffen
  • Abrüstungsgespräche zu konventionellen Waffen und Truppen (Wien I + II)
  • Gespräche zu weiteren Atomwaffentest-Moratorien
  • Gespräche zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffentechnik, Technik zur Herstellung von Atomwaffen fähigem Uran
  • Gespräche zu B- und C-Waffen (Verbot, Einschränkung, Nichtproduktion usw.)
  • Open Sky: Gespräche und Verhandlungen über gegenseitige Kontrollflüge zur Überprüfung militärischer Rüstung

Der Besuch des US-Außenministers Baker Anfang Februar 1990 in Moskau war als Arbeitsbesuch geplant und durchgeführt worden, ursprünglich geplant nur zum Themenkomplex der Abrüstung, Nichtverbreitung, Moratorium, B- und C-Waffen.
Zuletzt geändert von andreassolar am 17.03.2023, 20:01, insgesamt 1-mal geändert.
andreassolar
Mitglied
Beiträge: 259
Registriert: 10.03.2023, 21:48

Jene Tutzinger Rede von BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher am 31.1.1990 war im wahrsten Sinne auch als große Rede konzipert worden. Sie dürfte nicht nur 15-20 A4-Seiten lang gewesen sein, leider war mir bisher nur eine englische Version zugänglich, Genschers Büro hat sie gleichen Tags in verschiedenen Hauptsprachen diversen Botschaften und Außenministerien zustellen lassen.

In vertraulichen Hintergrundgesprächen waren zudem in den zwei vorhergehenden Tagen wichtige DiplomatieKorrespondenten in Bonn bereits auf die kommende Rede eingestimmt worden.

Die WEU verbreitete ebenfalls am 31.1. die wohl von Genschers Büro angefertige Übersetzung seiner Rede....doch anscheinend und passend nicht das NATO-HQ.

Die vollständige, deutschsprachige TutzingRede Genschers wird übrigens gerade im Rahmen des Neuen Narrativs praktisch nie, soweit mir ersichtlich, als Quelle herangezogen...stets werden lediglich die Auszüge oder Zitate aus anderen Veröffentlichungen rezipiert, welche wiederum gerne noch weiter ge- und verkürzt wieder gegeben werden.

Und selber konnte ich trotz aller wochenlangen Bemühungen bisher nur die von der WEU am 31.1.90 verbreitete englische Version auftreiben, die war aber dennoch natürlich sehr hilfreich.
andreassolar
Mitglied
Beiträge: 259
Registriert: 10.03.2023, 21:48

andreassolar hat geschrieben: 16.03.2023, 22:11
Nachrichten & Agenturmeldungen über Gorbis Bemerkung
Für die Meldung über Gorbatschows Bemerkung hatte es die Agenturmeldungen gegeben, die garantiert die Äußerungen Gorbatschows am Morgen des 30.1.90 beim Fototermin für die Presse in Windeseile gleicher Stunde, gleichen Tags verbreitet haben. Man kann sicher sein, dass Genscher als BRD-Außenminister und oberster Chef des Bonner AA umgehend am 30.1. davon Kenntnis erhalten hatte.
Das AA hat üblicherweise eine Nachrichtenabt., die direkt auch mit dem laufenden Strom von Agentur- und Pressemeldungen verbunden ist.
  • Die Tagesschau präsentierte noch am 30.1.90 in der 20h-Sendung, im Rahmen der Berichterstattung über den Modrow-Besuch in Moskau als ersten Beitrag, per Film-Aufnahme den vollständigen O-Ton Gorbatschows zur deutschen Einheit, samt Übersetzung, den er beim PresseFototermin vor Beginn der Gespräche abgegeben hatte.
  • Am nächsten Morgen, 31.1. hatten diverse Tageszeitungen die Story auf der Titelseite.

Die Tagesschau am 31.1.90 berichtet u.a. von Genschers Tutzinger Vorschlägen. Wieben verliest, Genscher habe sich auf einer Tagung der evang. Akademie Tutzing besonders gegen eine Ausweitung des militärischen NATO-Gebietes nach Osten gewandt, da dies das Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion berühren und damit die deutsch-deutsche Annäherung blockieren würde.

Sowohl der Bezug auf die militärischen NATO-Strukturen wie auch auf die deutsch-deutsche Annährung zeigen hinreichend, da damit im Beitrag der militärische Status des DDR-Gebietes gemeint war.

Dem folgt ein Einspieler mit O-Ton von Genscher in Tutzing:

Interviewer:
Herr Minister, keine militärische Ausdehnung der NATO auf des Gebiet der DDR, aber auch kein neutralisiertes Gesamtdeutschland, wie soll das Ihrer Meinung nach zusammen gehen?​

Genscher:
Deutschland wird Mitglied sein in der NATO, aber die Streitkräfte der NATO werden in dem Raum bleiben, in dem sie heute stehen; d.h., auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland.​

Der Interviewer fragt nun, ob Genscher diese Vorstellungen mit seinen Kollegen in der NATO abgesprochen habe.
Genscher gibt zurück, nein, das sei ein deutscher Beitrag zu kooperativen Sicherheitsstrukturen in Europa und der NATO gehe dabei ja nichts verloren, [...] die deutsche Einheit sei nicht zu haben, wenn es zu einer Kräfteverschiebung zwischen West und Ost komme. [...]
Der Interviewer fragt nun, ob Genscher diese Vorstellungen mit seinen Kollegen in der NATO abgesprochen habe.
Genscher gibt zurück, nein, das sei ein deutscher Beitrag zu kooperativen Sicherheitsstrukturen in Europa und der NATO gehe dabei ja nichts verloren, [...] die deutsche Einheit sei nicht zu haben, wenn es zu einer Kräfteverschiebung zwischen West und Ost komme.

Aktuell wird wenig wahr genommen, dass Genscher im Interview am 31.1.1990 für die Tagesschau zutreffend betonte, dass der NATO mit seinem Vorschlag ja nichts verloren gehe. Nicht zutreffend war dagegen seine offenkundige Auffassung, sein Vorschlag, die militärischen Strukturen der NATO nicht auf das DDR-Gebiet auszudehnen im Fall einer deutschen Einheit, sei k e i n e Kräfteverschiebung zwischen Ost und West.

Denn: Gesamtdeutschland werde Mitglied in der NATO sein, so Genscher. Was zur Folge hätte (hatte), dass die DDR bzw. das DDR-Gebiet aus dem WP ausscheiden würde (ausgetreten ist). Und dort war das mit weitem Abstand umfangreichste Militär- und Waffenkontingent der SU außerhalb der SU stationiert.

Das musste unweigerlich wenig seriös oder konstruktiv in Moskau wirken, sowohl bei den orthodoxen Kommunisten, siehe Valentin Falin oder Juli Kwizinsky, wie bei den moderaten Kräften wie Gorbatschow und Schewardnadse.

Wir hatten weiter oben bereits aus Gorbatschows Brief an Willy Brandt vom 7. Februar 1990 einige Zeilen zitiert, die genau diesen Umstand zur Sprache bringen.

In der Tagesschau vom 9. Februar 1990, 20h-Ausgabe, wird u.a. vom Besuch des us-amerikanischen Außenminister James Baker in Moskau berichtet. Dabei wird lediglich berichtet, es gehe u.a. zwischen den USA und der Sowjetunion um Abrüstung und um die Frage, ob ein vereintes Deutschland, wie Baker es wolle, Mitglied der NATO sein könne. Sein Meinung dazu wolle Gorbatschow nicht den Journalisten mitteilen.

Der nächste Einspieler zeigt den ARD-Korrespondenten in Moskau, Albrecht Reinhardt, der einen Kommentator der offiziösen sowjetischen Nachrichtenagentur TASS u.a. damit anführt, Genschers Vorschlag eines vereinten Deutschland innerhalb der NATO, aber ohne westliche Truppen auf dem Gebiet der heutigen DDR, sei weder realistisch noch konstruktiv.

Auch die ebenfalls hier schon weiter oben referierten Äußerungen Valentin Falins zu Genschers Tutzinger Ideen, im Interview mit dem SPIEGEL vom 18. Februar 1990, spiegeln die ablehnende sowjetische Haltung dazu, sowohl der Hardliner wie der Moderaten, genau wider.

Entsprechend und offenbar gänzlich irrelevant war in der damaligen Lage, Sache, Situation und Diskussion eine andere benachbarte, verwechslungsfähige und verwechselte Aufforderung/ Idee/ Vorstellung/ Anregung in GenschersTutzinger Rede:

[...] Sache der NATO ist es, eindeutig zu erklären: Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des NATO-Territoriums [der NATO-Militärstrukturen? der sicherheitspolitischen Garantie nach Art. 5?; Anm. von mir] nach Osten, das heißt, näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es nicht geben. [...]

Zitiert nach Karl Kaiser, Deutschlands Vereinigung. Die internationalen Aspekte (1991), S. 191.

Die im Neuen Narrativ kolportierte 'Garantie der NATO-Nichtausdehnung' müsste damals entlang des Neuen Narrativs ja eine Sensation für die sowjetischen Verantwortlichen gewesen sein. Ein Traum für alle Hardliner und auch Moderaten in Moskau, ein Superthema für die alle und besonders die sowjetischen Medien.
Völlige Fehlanzeige. Auch damit lässt sich das Neue Narrativ wiederholt als sehr junge, moderne nachträgliche Legendenbildung ohne hinreichende reale, plausible, wissenschaftliche Basis anführen.
Benutzeravatar
Barbarossa
Mitglied
Beiträge: 15507
Registriert: 09.07.2008, 16:46
Wohnort: Mark Brandenburg

Ich finde das sehr gut, dass das Thema hier einmal haarklein aufgedröselt wird. Man sollte daraus einen Beitrag für das Lexikon
(https://geschichte-wissen.de/blog/epoch ... lte-krieg/) machen. Vielleicht findet Balduin dazu ja mal Zeit?
Die Diskussion ist eröffnet!

Jedes Forum lebt erst, wenn Viele mitdiskutieren.
Schreib auch du deine Meinung! Nur kurz registrieren und los gehts! ;-)
Benutzeravatar
Balduin
Administrator
Beiträge: 4213
Registriert: 08.07.2008, 19:33
Kontaktdaten:

Barbarossa hat geschrieben: 16.04.2023, 14:03 Ich finde das sehr gut, dass das Thema hier einmal haarklein aufgedröselt wird. Man sollte daraus einen Beitrag für das Lexikon
(https://geschichte-wissen.de/blog/epoch ... lte-krieg/) machen. Vielleicht findet Balduin dazu ja mal Zeit?
Ich werde prüfen, ob diese Forum-Serie sich für das Lexikon eignet :) und selbstverständlich muss Andreas das auch wollen!
Herzlich Willkommen auf Geschichte-Wissen - Registrieren - Hilfe & Anleitungen - Mitgliedervorstellung

He has called on the best that was in us. There was no such thing as half-trying. Whether it was running a race or catching a football, competing in school—we were to try. And we were to try harder than anyone else. We might not be the best, and none of us were, but we were to make the effort to be the best. "After you have done the best you can", he used to say, "the hell with it". Robert F. Kennedy - Tribute to his father
andreassolar
Mitglied
Beiträge: 259
Registriert: 10.03.2023, 21:48

Barbarossa hat geschrieben: 16.04.2023, 14:03 Man sollte daraus einen Beitrag für das Lexikon
(https://geschichte-wissen.de/blog/epoch ... lte-krieg/) machen.
Schöne Idee.
Balduin hat geschrieben: 16.04.2023, 19:41 Ich werde prüfen, ob diese Forum-Serie sich für das Lexikon eignet :) und selbstverständlich muss Andreas das auch wollen!
Ja, macht Sinn und bietet sehr solide & valide Grundlagen, meine ich.

Die hier geposteten Beiträge stellen die vielleicht nicht ganz ideal/konsistent gekürzte und gestraffte Version meiner Originalbeiträge dar, die in einem anderen Dis-Forum meinerseits gepostet worden waren. Daher fehlen hier manchmal die Quellenangaben in den einzelnen Posts, insgesamt sind sie jedoch alle genannt.
andreassolar
Mitglied
Beiträge: 259
Registriert: 10.03.2023, 21:48

andreassolar hat geschrieben: 16.03.2023, 22:03 Mary Sarottes Not one inch kann bei diesen Punkten entsprechend und erwartungsgemäß gleichfalls wenig überzeugen.


Genschers Tutzinger Rede wird erneut rudimentär, lückenhaft und verzerrt referiert. Die Vorgeschichte der Tutzinger Rede wird, wie von Sarotte andernorts schon dargestellt, nicht zutreffend vor allem mit einem Memo vom 31.1.90 des AA-Referatsleiter Klaus Neubert in Verbindung gebracht.

Neubert habe lt. Sarotte Gorbatschows Bemerkungen bei einem Presse-Fototermin mit DDR-Ministerpräsident Modrow am 30.1.90 im Moskau, die deutsche Einheit sei nicht mehr zweifelhaft, in jener Notiz vom 31.1.90 für Genscher euphorisch überinterpretiert - was unmittelbare Auswirkungen auf Genschers Rede in Tutzing gehabt habe.

Schon mit kurzer Überlegung fällt auf, dass Neubert seine Notiz am 31.1. erstellt und an Genschers Büro geschickt hatte und Genscher die Rede in Tutzing ebenfalls am 31.1. gehalten hat.
Bereits zeitlich kaum möglich und nicht plausibel, verschleiert Sarotte das Zeitproblem damit, dass sie Gorbatschows Bemerkungen explizit mit Datum 30.1. erwähnt, doch Neubert erstellt seine Notiz bei Sarotte 'am nächsten Tag'. Zwei Abschnitte, 21 Zeilen weiter und damit auf der nächsten Buchseite, kommt die Tutzinger Rede am 31.1. dran.....


Sarotte versucht mit Neubert eine superkurzfristige Entscheidung aufgrund einer - angeblichen - Überinterpretation durch Neubert zu konstruieren, um wieder mal zu belegen, dass Genscher in Tutzing die Nichterweiterung der NATO versprochen habe?


Dienstwege und Zeitlücken
Der Text der Autorin vermeidet auch hier, den Tag der Abfassung von Neuberts Vorlage für Genschers Büro anzugeben, den 31.1.
Folgt man Sarotte, so hat Genscher aufgrund Neuberts Notizen zum vermeintlichen Versprechen von Gorbatschow hinsichtlich der Vereinigung beschlossen, in Tutzing mit einer Rede aufzutreten, die darlegen sollte, wie das Versprechen der Einheit eingelöst werden könnte. Durch das Versprechen der Nichterweiterung der NATO.

Neubert hat die von seinen Mitarbeitern Stüdemann und Brett mit Datum vom 31. Januar 1990 verfasste Vorlage zur Unterrichtung für Außenminister Genscher unterschrieben und mit dem regulären Dienstweg über den Leiter der Unterabteilung, Höynck, dem Leiter der Politischen Abt., Kastrup, und Staatssekretär Sudhoff ans Büro von Genscher geschickt. Die Vorlage zur Unterrichtung dürfte 5-6 Word-Seiten lang sein, um mal die Größenordnung anzudeuten.
Der reguläre Dienstweg umfasste mehrere Stationen (auch der Selektion durch die höherrangigen Beamten), bevor sie Genscher vorgelegt wurden.

Eine ebenfalls mit Datum 31. Januar 1990 verfasste Vorlage zur Unterrichtung des Bundesaußenministers hatte der Leiter des Referates 210, Lambach, unterschrieben, gleichfalls zu den Äußerungen Gorbatschows zur Deutschen Einheit vor dem Fototermin mit Modrow am 30.1.90 - mit identischem Dienstweg über Höynk zu Kastrup, von Kastrup zu Sudhoff, von Sudhoff an Genscher.
Frühestens am 1.2.90 hat die Vorlage Lambachs Genscher bzw. sein Büro erreicht haben, wie die Anmerkungen mit den notierten Empfangsdaten zum abgedruckten Text Lambachs in Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1990, 1. Teilband, S. 88, zeigen.

Am 31.1.90 hatte offenbar Neuberts Vorgesetzter Höynk vor Neuberts Vorlage schon eine vom Referatsleiter Lambach und dessen Mitarbeiter und Co-Autor Brandenburg erhalten zum gleichen Thema, Gorbatschows Bemerkungen zur dt. Einheit beim Fototermin mit Modrow am 30.1.
Höynk leitete daher Neuberts Vorlage offenkundig nicht weiter, sondern gab sie Lambach (zur Kenntnis/zum lesen), der Neuberts Vorlage wiederum mit einem Kommentar versah für seinen, Lambachs Co-Autor Brandenburg, und diesem dann Neuberts Vorlage zukommen lies bzw. hinterlegte.


Neuberts Vorlage zur Unterrichtung des Chefs, Bundesaußenminister Genscher, hat es also gar nicht bis zu Genscher geschafft. Selbst zeitlich wäre das unter normalen Dienstabläufen nicht am gleichen Tag, dem 31.1., möglich gewesen.
Neuberts Vorlage in: Horst Möller u.a., Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess (2015), Dok. 44, S. 225-229.

Lambachs Aufzeichnung in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland. 1990. Dok. 21, S. 88-90.

In beiden Editionen wurden die Dokumente sorgfältig wissenschaftlich ediert. Dazu gehört, dass alle Zusatzinformationen der Dokumente wie handschriftliche Einträge/Bemerkungen, vermerkte Laufwege und Laufzeiten, Abzeichnungen/Empfänger usw. ebenfalls - meist in Anmerkungen/Fußnoten - vollständig und exakt wiedergegeben sind.

Daher lässt sich entlang von Vergleichen mühelos zeigen, dass Neuberts Vorlage vom 31.1.90 für Genscher diesen bzw. dessen Büro gar nicht erreicht hat.

Beispiel: Dok. 43, vor Neuberts Vorlage Dok. 44, vermerkt vor dem eigentlichen DokumentenText, dass der am 24.1.90 vom stellv. RL 204, Kölsch, konzipierte Vermerk des Leiters der Politischen Abteilung, Kastrup, am 26.1.90 über Staatssekretär Sudhoff an BM Genscher geleitete wurde, dem er am 29.1.90 vorlag.

Bei allen Dok. in beiden Editionen wird das akribisch wiedergegeben, so dass die Unterschiede leicht erkennbar und nachweisbar sind, wenn beispielsweise eine Vorlage, ein Bericht usw. n i c h t oder nicht alle vorgesehenen Empfänger/Vorgesetzten erreicht hat.

Und Neuberts Vorlage hat Genschers Ministerbüro nicht/nie erreicht.

Dies sind Grundlagenfähigkeiten, die zum wissenschaftlichen Handwerkszeug in der Geschichtswissenschaft gehören, meine ich, und die ich bei Mary Sarotte's Not one Inch in der Episode Neubert nicht erkennen kann.
Skeptik
Mitglied
Beiträge: 414
Registriert: 06.06.2022, 17:50

@andreasolar:
Neubert habe lt. Sarotte Gorbatschows Bemerkungen bei einem Presse-Fototermin mit DDR-Ministerpräsident Modrow am 30.1.90 im Moskau, die deutsche Einheit sei nicht mehr zweifelhaft, in jener Notiz vom 31.1.90 für Genscher euphorisch überinterpretiert - was unmittelbare Auswirkungen auf Genschers Rede in Tutzing gehabt habe.

Wenn diese Meldung aus Moskau für Genschers Tutzinger Rede sehr wichtig gewesen sein sollte, dann hat das Neubert sicher erkannt und eventuell Genscher sofort fernmündlich davon in Kenntnis gesetzt. Wenn Genscher sich für diesen Hinweis besonders bedankt haben sollte, - "gut gemacht" - wäre die schriftlich nachgereichte euphorische Reaktion eines "Untergebenen" menschlich verständlich.
andreassolar
Mitglied
Beiträge: 259
Registriert: 10.03.2023, 21:48

Lambachs Aufzeichnungen enthalten in der Edition entsprechend im Kopfteil die Stationen des vorgesehenen Laufwegs über Lambachs diverse Vorgesetzte hin zu BM Genscher, im Anmerkungsapparat jeweils dazu die eingetragenen Datums-Daten und Abzeichnungen der Vorgesetzten bzw. ihrer Büro.

Skeptik, eine Antwort/Reaktion auf Deinen Unfug erübrigt sich m.E..
Antworten
  • Vergleichbare Themen
    Antworten
    Zugriffe
    Letzter Beitrag

Zurück zu „Russland“