von andreassolar » 18.04.2023, 23:38
andreassolar hat geschrieben: ↑16.03.2023, 22:03
Mary Sarottes Not one inch kann bei diesen Punkten entsprechend und erwartungsgemäß gleichfalls wenig überzeugen.
Genschers Tutzinger Rede wird erneut rudimentär, lückenhaft und verzerrt referiert.
Die Vorgeschichte der Tutzinger Rede wird, wie von Sarotte andernorts schon dargestellt, nicht zutreffend vor allem mit einem Memo vom 31.1.90 des AA-Referatsleiter Klaus Neubert in Verbindung gebracht.
Neubert habe lt. Sarotte Gorbatschows Bemerkungen bei einem Presse-Fototermin mit DDR-Ministerpräsident Modrow am 30.1.90 im Moskau, die deutsche Einheit sei nicht mehr zweifelhaft, in jener Notiz vom 31.1.90 für Genscher euphorisch überinterpretiert - was unmittelbare Auswirkungen auf Genschers Rede in Tutzing gehabt habe.
Schon mit kurzer Überlegung fällt auf, dass
Neubert seine Notiz am 31.1. erstellt und an Genschers Büro geschickt hatte und Genscher die Rede in Tutzing ebenfalls am 31.1. gehalten hat.
Bereits zeitlich kaum möglich und nicht plausibel, verschleiert Sarotte das Zeitproblem damit, dass sie Gorbatschows Bemerkungen explizit mit Datum 30.1. erwähnt, doch Neubert erstellt seine Notiz bei Sarotte 'am nächsten Tag'. Zwei Abschnitte, 21 Zeilen weiter und damit auf der nächsten Buchseite, kommt die Tutzinger Rede am 31.1. dran.....
Sarotte versucht mit Neubert eine superkurzfristige Entscheidung aufgrund einer - angeblichen - Überinterpretation durch Neubert zu konstruieren, um wieder mal zu belegen, dass Genscher in Tutzing die Nichterweiterung der NATO versprochen habe?
Dienstwege und Zeitlücken
Der Text der Autorin vermeidet auch hier, den Tag der Abfassung von Neuberts Vorlage für Genschers Büro anzugeben, den 31.1.
Folgt man Sarotte, so hat Genscher aufgrund Neuberts Notizen zum vermeintlichen Versprechen von Gorbatschow hinsichtlich der Vereinigung beschlossen, in Tutzing mit einer Rede aufzutreten, die darlegen sollte, wie das Versprechen der Einheit eingelöst werden könnte. Durch das Versprechen der Nichterweiterung der NATO.
Neubert hat die von seinen Mitarbeitern Stüdemann und Brett mit Datum vom 31. Januar 1990 verfasste Vorlage zur Unterrichtung für Außenminister Genscher unterschrieben und mit dem regulären Dienstweg über den Leiter der Unterabteilung, Höynck, dem Leiter der Politischen Abt., Kastrup, und Staatssekretär Sudhoff ans Büro von Genscher geschickt. Die Vorlage zur Unterrichtung dürfte 5-6 Word-Seiten lang sein, um mal die Größenordnung anzudeuten.
Der reguläre Dienstweg umfasste mehrere Stationen (auch der Selektion durch die höherrangigen Beamten), bevor sie Genscher vorgelegt wurden.
Eine ebenfalls mit Datum 31. Januar 1990 verfasste Vorlage zur Unterrichtung des Bundesaußenministers hatte der Leiter des Referates 210, Lambach, unterschrieben, gleichfalls zu den Äußerungen Gorbatschows zur Deutschen Einheit vor dem Fototermin mit Modrow am 30.1.90 - mit identischem Dienstweg über Höynk zu Kastrup, von Kastrup zu Sudhoff, von Sudhoff an Genscher.
Frühestens am 1.2.90 hat die Vorlage Lambachs Genscher bzw. sein Büro erreicht haben, wie die Anmerkungen mit den notierten Empfangsdaten zum abgedruckten Text Lambachs in
Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1990, 1. Teilband, S. 88, zeigen.
Am 31.1.90 hatte offenbar Neuberts Vorgesetzter Höynk vor Neuberts Vorlage schon eine vom Referatsleiter Lambach und dessen Mitarbeiter und Co-Autor Brandenburg erhalten zum gleichen Thema, Gorbatschows Bemerkungen zur dt. Einheit beim Fototermin mit Modrow am 30.1.
Höynk leitete daher Neuberts Vorlage offenkundig nicht weiter, sondern gab sie Lambach (zur Kenntnis/zum lesen), der Neuberts Vorlage wiederum mit einem Kommentar versah für seinen, Lambachs Co-Autor Brandenburg, und diesem dann Neuberts Vorlage zukommen lies bzw. hinterlegte.
Neuberts Vorlage zur Unterrichtung des Chefs, Bundesaußenminister Genscher, hat es also gar nicht bis zu Genscher geschafft. Selbst zeitlich wäre das unter normalen Dienstabläufen nicht am gleichen Tag, dem 31.1., möglich gewesen.
Neuberts Vorlage in:
Horst Möller u.a., Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess (2015), Dok. 44, S. 225-229.
Lambachs Aufzeichnung in:
Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland. 1990. Dok. 21, S. 88-90.
In beiden Editionen wurden die Dokumente sorgfältig wissenschaftlich ediert. Dazu gehört, dass alle Zusatzinformationen der Dokumente wie handschriftliche Einträge/Bemerkungen, vermerkte Laufwege und Laufzeiten, Abzeichnungen/Empfänger usw. ebenfalls - meist in Anmerkungen/Fußnoten - vollständig und exakt wiedergegeben sind.
Daher lässt sich entlang von Vergleichen mühelos zeigen, dass Neuberts Vorlage vom 31.1.90 für Genscher diesen bzw. dessen Büro gar nicht erreicht hat.
Beispiel: Dok. 43, vor Neuberts Vorlage Dok. 44, vermerkt vor dem eigentlichen DokumentenText, dass der am 24.1.90 vom stellv. RL 204, Kölsch, konzipierte Vermerk des Leiters der Politischen Abteilung, Kastrup, am 26.1.90 über Staatssekretär Sudhoff an BM Genscher geleitete wurde, dem er am 29.1.90 vorlag.
Bei allen Dok. in beiden Editionen wird das akribisch wiedergegeben, so dass die Unterschiede leicht erkennbar und nachweisbar sind, wenn beispielsweise eine Vorlage, ein Bericht usw. n i c h t oder nicht alle vorgesehenen Empfänger/Vorgesetzten erreicht hat.
Und Neuberts Vorlage hat Genschers Ministerbüro nicht/nie erreicht.
Dies sind Grundlagenfähigkeiten, die zum wissenschaftlichen Handwerkszeug in der Geschichtswissenschaft gehören, meine ich, und die ich bei Mary Sarotte's
Not one Inch in der Episode Neubert nicht erkennen kann.
[quote=andreassolar post_id=74442 time=1679000636 user_id=2566]
[size=150]Mary Sarottes[i] Not one inch[/i] kann bei diesen Punkten entsprechend und erwartungsgemäß gleichfalls wenig überzeugen.[/size]
Genschers Tutzinger Rede wird erneut rudimentär, lückenhaft und verzerrt referiert. [color=#BF0040]Die Vorgeschichte der Tutzinger Rede wird, wie von Sarotte andernorts schon dargestellt, nicht zutreffend vor allem mit einem Memo vom 31.1.90 des AA-Referatsleiter [b]Klaus Neubert[/b] in Verbindung gebracht.[/color]
[i]Neubert [/i]habe lt. Sarotte Gorbatschows Bemerkungen bei einem Presse-Fototermin mit DDR-Ministerpräsident Modrow am 30.1.90 im Moskau, die deutsche Einheit sei nicht mehr zweifelhaft, in jener Notiz vom 31.1.90 für Genscher euphorisch überinterpretiert - was unmittelbare Auswirkungen auf Genschers Rede in Tutzing gehabt habe.
Schon mit kurzer Überlegung fällt auf, dass [i]Neubert [/i]seine Notiz am 31.1. erstellt und an Genschers Büro geschickt hatte und Genscher die Rede in Tutzing ebenfalls am 31.1. gehalten hat.
Bereits zeitlich kaum möglich und nicht plausibel, verschleiert Sarotte das Zeitproblem damit, dass sie Gorbatschows Bemerkungen explizit mit Datum 30.1. erwähnt, doch Neubert erstellt seine Notiz bei Sarotte 'am nächsten Tag'. Zwei Abschnitte, 21 Zeilen weiter und damit auf der nächsten Buchseite, kommt die Tutzinger Rede am 31.1. dran.....
[color=#4000BF]Sarotte versucht mit Neubert eine superkurzfristige Entscheidung aufgrund einer - angeblichen - Überinterpretation durch Neubert zu konstruieren, um wieder mal zu belegen, dass Genscher in Tutzing die Nichterweiterung der NATO versprochen habe?[/color]
[color=#4000BF]Dienstwege und Zeitlücken[/color]
Der Text der Autorin vermeidet auch hier, den Tag der Abfassung von Neuberts Vorlage für Genschers Büro anzugeben, den 31.1.
Folgt man Sarotte, so hat Genscher aufgrund Neuberts Notizen zum vermeintlichen Versprechen von Gorbatschow hinsichtlich der Vereinigung beschlossen, in Tutzing mit einer Rede aufzutreten, die darlegen sollte, wie das Versprechen der Einheit eingelöst werden könnte. Durch das Versprechen der Nichterweiterung der NATO.
Neubert hat die von seinen Mitarbeitern Stüdemann und Brett mit Datum vom 31. Januar 1990 verfasste Vorlage zur Unterrichtung für Außenminister Genscher unterschrieben und mit dem regulären Dienstweg über den Leiter der Unterabteilung, Höynck, dem Leiter der Politischen Abt., Kastrup, und Staatssekretär Sudhoff ans Büro von Genscher geschickt. Die Vorlage zur Unterrichtung dürfte 5-6 Word-Seiten lang sein, um mal die Größenordnung anzudeuten.
Der reguläre Dienstweg umfasste mehrere Stationen (auch der Selektion durch die höherrangigen Beamten), bevor sie Genscher vorgelegt wurden.
Eine ebenfalls mit Datum 31. Januar 1990 verfasste Vorlage zur Unterrichtung des Bundesaußenministers hatte der Leiter des Referates 210, Lambach, unterschrieben, gleichfalls zu den Äußerungen Gorbatschows zur Deutschen Einheit vor dem Fototermin mit Modrow am 30.1.90 - mit identischem Dienstweg über Höynk zu Kastrup, von Kastrup zu Sudhoff, von Sudhoff an Genscher.
Frühestens am 1.2.90 hat die Vorlage Lambachs Genscher bzw. sein Büro erreicht haben, wie die Anmerkungen mit den notierten Empfangsdaten zum abgedruckten Text Lambachs in [i]Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1990[/i], 1. Teilband, S. 88, zeigen.
[color=#4000BF]Am 31.1.90 hatte offenbar Neuberts Vorgesetzter Höynk vor Neuberts Vorlage schon eine vom Referatsleiter Lambach und dessen Mitarbeiter und Co-Autor Brandenburg erhalten zum gleichen Thema, Gorbatschows Bemerkungen zur dt. Einheit beim Fototermin mit Modrow am 30.1.
Höynk leitete daher Neuberts Vorlage offenkundig nicht weiter, sondern gab sie Lambach (zur Kenntnis/zum lesen), der Neuberts Vorlage wiederum mit einem Kommentar versah für seinen, Lambachs Co-Autor Brandenburg, und diesem dann Neuberts Vorlage zukommen lies bzw. hinterlegte.[/color]
Neuberts Vorlage zur Unterrichtung des Chefs, Bundesaußenminister Genscher, hat es also gar nicht bis zu Genscher geschafft. Selbst zeitlich wäre das unter normalen Dienstabläufen nicht am gleichen Tag, dem 31.1., möglich gewesen.
[/quote]
[u]Neuberts Vorlage[/u] in: [i]Horst Möller u.a., Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess[/i] (2015), Dok. 44, S. 225-229.
[u]Lambachs Aufzeichnung[/u] in:[i] Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland. 1990[/i]. Dok. 21, S. 88-90.
In beiden Editionen wurden die Dokumente sorgfältig wissenschaftlich ediert. Dazu gehört, dass alle Zusatzinformationen der Dokumente wie handschriftliche Einträge/Bemerkungen, vermerkte Laufwege und Laufzeiten, Abzeichnungen/Empfänger usw. ebenfalls - meist in Anmerkungen/Fußnoten - vollständig und exakt wiedergegeben sind.
Daher lässt sich entlang von Vergleichen mühelos zeigen, dass Neuberts Vorlage vom 31.1.90 für Genscher diesen bzw. dessen Büro gar nicht erreicht hat.
[u]Beispiel[/u]: Dok. 43, vor Neuberts Vorlage Dok. 44, vermerkt vor dem eigentlichen DokumentenText, dass der am 24.1.90 vom stellv. RL 204, Kölsch, konzipierte Vermerk des Leiters der Politischen Abteilung, Kastrup, am 26.1.90 über Staatssekretär Sudhoff an BM Genscher geleitete wurde, dem er am 29.1.90 vorlag.
Bei allen Dok. in beiden Editionen wird das akribisch wiedergegeben, so dass die Unterschiede leicht erkennbar und nachweisbar sind, wenn beispielsweise eine Vorlage, ein Bericht usw. n i c h t oder nicht alle vorgesehenen Empfänger/Vorgesetzten erreicht hat.
Und Neuberts Vorlage hat Genschers Ministerbüro nicht/nie erreicht.
Dies sind Grundlagenfähigkeiten, die zum wissenschaftlichen Handwerkszeug in der Geschichtswissenschaft gehören, meine ich, und die ich bei Mary Sarotte's [i]Not one Inch[/i] in der Episode Neubert nicht erkennen kann.