von Orianne » 13.09.2014, 09:31
Nächste Woche beginnt ein neues Semester. Dozentin Christiane Florin hat ein kritisches Buch über die heutigen Studenten geschrieben: Sie wüssten viel weniger als frühere Generationen und seien überangepasst.
Frau Florin, Sie haben einen Lehrauftrag an der Uni Bonn. Was fiel Ihnen als Dozentin auf?
Mir fiel auf: Viele Studenten, die da vor mir sitzen, haben von Politik keine Ahnung, verfügen nicht einmal über Grundkenntnisse. Wenn ich um eine chronologische Aufzählung der Nachkriegsbundeskanzler bitte, schaue ich in ratlose Gesichter. Natürlich besteht ein Studium nicht darin, stumpfsinnig Namen und Daten aufzuzählen, aber ich hatte erwartet, dass jemand, der sich für ein Seminar zur deutschen Innenpolitik anmeldet, sich schon einmal aus eigenem Antrieb mit dem Land beschäftigt hat, in dem er lebt. Grundwissen ist eine zwingende Notwendigkeit, um überhaupt am politischen Leben teilnehmen zu können. Da reichen Flashmobs, Containern und Web-Petitionen nicht aus.
Sie vermissen die Neugierde.
Die meisten meiner Studenten spulen einfach ein Programm ab, hinterfragen nichts und niemanden. Debattieren wollen sie meist erst, wenn sie mit ihren Noten unzufrieden sind. Sie erledigen das Studium wie einen Job, und das ist schade.
Ist dieser Missstand tatsächlich den Studenten vorzuwerfen? Wäre nicht viel eher das Bologna-System mit seiner Kontrollobsession und seinem Punktefetisch zu kritisieren?
Das Bologna-System trägt Mitschuld, kein Zweifel. Es ist wie die Studenten das Produkt unserer Gesellschaft, die sich seit den 1990ern radikal der Effizienzsteigerung verschrieben hat. Das Bildungssystem wurde ökonomisiert, man bildet sich nicht, sondern sammelt Credit-Points und Abschlüsse. Und auch wir Dozenten, Lehrbeauftragte und Professoren müssen uns die kritische Frage stellen lassen, wo wir gewesen sind, als das Bologna-System eingeführt wurde – warum da nicht mehr Widerspruch kam. Dennoch: Die Studenten dürfen nicht in ihrer selbstgewählten Resignation verharren. Dass sie sich angepasst verhalten, entspringt ja nicht einer inneren Überzeugung, sondern dem Gefühl: Ich kann ohnehin nichts ändern.
Ihre Klage über allzu berechnende, allzu ruhige Studenten scheint einer diffusen Sehnsucht nach «mehr Leidenschaft im Hörsaal» geschuldet, die unweigerlich in eine Glorifizierung der 68er und ihrer mitunter zum Palaver neigenden Exponenten mündet.
Nein. Ich bin 1968 geboren, die Glorifizierung der 68er überlasse ich den Strassenkämpfern von damals. Es geht mir nicht einmal darum, eine politisch engagiertere Studentenschaft zu fordern. Auch in meiner Studentenzeit, ja selbst 1968 engagierte sich nur eine Minderheit. Mir geht es um interessierte Studenten. Ich möchte sie dazu ermutigen, ein Studium als Chance zu sehen, sich mit anregenden Gedanken auseinanderzusetzen und selbstständiges Denken und Urteilskraft zu trainieren.
Haben sich nicht auch Organisation und Infrastruktur der Uni den heutigen Studenten entfremdet? Frontalunterricht, Hörsäle: Das sind Konzepte, die vor Jahrhunderten entwickelt wurden.
Sicher, da könnte man mehr tun. Aber auch hier gilt: Wenn die Studenten diese Formen nicht mehr für zeitgemäss erachten, sollen sie sich melden und Vorschläge machen, wie die Lehre besser werden könnte. Und das tun sie eben nicht. Zu selten.
Viele geisteswissenschaftliche Fächer leiden unter ihrer Popularität: Überfüllte Vorlesungen und Seminare verhindern eine ordentliche Betreuung und intensive, persönliche Diskussionen. Könnte hier eine strengere Selektion Fächer und Studenten aufwerten?
Das ist mir zu mechanisch. Es geht doch vielmehr darum, endlich ehrlich und ernsthaft zu fragen, was ein Abiturient respektive Maturand wissen und können muss, was Reife im Wort Hochschulreife bedeutet. Ich frage meine Studenten immer: Was bedeutet Bildung für Sie? Warum studieren Sie? Dann sind sie erst einmal sprachlos, weil ihnen offenbar niemand bisher diese Frage gestellt hat. Bildung ist für sie die Erfüllung diffuser Erwartungen, sie wollen möglichst schnell durch die Uni, ganz egal, ob sie neue Erkenntnisse gewonnen haben oder nicht. Heute wird viel zu sehr über vage Kompetenzen geschwurbelt, statt über konkrete Inhalte geredet. Die Ansprüche sinken, die Anzahl der Abiturienten steigt – was ja auch politisch gewollt ist. Und so wird die Stunde der Wahrheit im Lebenslauf nach hinten geschoben.
Was meinen Sie damit?
Es gibt in Deutschland eine Inflation der guten und sehr guten Noten, sowohl beim Abitur als auch beim Hochschulabschluss. Viele, die heute die Universität mit einem guten Abschluss verlassen, wären früher schon im Gymnasium oder an der Universität gescheitert. Heute scheitern sie im Beruf. Absolventen präsentieren ihrem Arbeitgeber einen tollen Lebenslauf, ihr Chef ist dann aber im Alltag richtiggehend schockiert, wie bescheiden die praktischen Fähigkeiten tatsächlich sind, wie unselbstständig junge Akademiker sich verhalten und wie wenig Verantwortungsbereitschaft sie zeigen. Solche Klagen höre ich in letzter Zeit aus den HR-Abteilungen grosser Firmen. In der Folge werden Vorstellungsgespräche und Probetage gegenüber Noten höher gewichtet. Das heisst, die Noten, die wir verteilen, gelten nicht als besonders glaubwürdig. Man muss aber auch sagen, dass die Arbeitgeber, die sich jetzt beschweren, vor einigen Jahren genau diesen Bachelor gefordert haben.
Haben Sie manchmal das Gefühl, Ihre Studenten gar nicht mehr zu erreichen?
Im Gegenteil: Mein Buch spricht sehr viele Studenten an. Das Echo ist gewaltig, in positiver wie in negativer Hinsicht. Viele Studenten haben mir zugestimmt – nicht zufällig solche, die sich bereits heute engagieren. Noch mehr reagierten jedoch sehr getroffen, sehr pikiert. Manche fordern mich auf, ein nächstes Buch zu schreiben mit dem Titel: Warum unsere Journalisten so angepasst sind.
Quelle: Tagesanzeiger Zürich
Nächste Woche beginnt ein neues Semester. Dozentin Christiane Florin hat ein kritisches Buch über die heutigen Studenten geschrieben: Sie wüssten viel weniger als frühere Generationen und seien überangepasst.
[b]Frau Florin, Sie haben einen Lehrauftrag an der Uni Bonn. Was fiel Ihnen als Dozentin auf? [/b]
Mir fiel auf: Viele Studenten, die da vor mir sitzen, haben von Politik keine Ahnung, verfügen nicht einmal über Grundkenntnisse. Wenn ich um eine chronologische Aufzählung der Nachkriegsbundeskanzler bitte, schaue ich in ratlose Gesichter. Natürlich besteht ein Studium nicht darin, stumpfsinnig Namen und Daten aufzuzählen, aber ich hatte erwartet, dass jemand, der sich für ein Seminar zur deutschen Innenpolitik anmeldet, sich schon einmal aus eigenem Antrieb mit dem Land beschäftigt hat, in dem er lebt. Grundwissen ist eine zwingende Notwendigkeit, um überhaupt am politischen Leben teilnehmen zu können. Da reichen Flashmobs, Containern und Web-Petitionen nicht aus.
[b]Sie vermissen die Neugierde. [/b]
Die meisten meiner Studenten spulen einfach ein Programm ab, hinterfragen nichts und niemanden. Debattieren wollen sie meist erst, wenn sie mit ihren Noten unzufrieden sind. Sie erledigen das Studium wie einen Job, und das ist schade.
[b]Ist dieser Missstand tatsächlich den Studenten vorzuwerfen? Wäre nicht viel eher das Bologna-System mit seiner Kontrollobsession und seinem Punktefetisch zu kritisieren?[/b]
Das Bologna-System trägt Mitschuld, kein Zweifel. Es ist wie die Studenten das Produkt unserer Gesellschaft, die sich seit den 1990ern radikal der Effizienzsteigerung verschrieben hat. Das Bildungssystem wurde ökonomisiert, man bildet sich nicht, sondern sammelt Credit-Points und Abschlüsse. Und auch wir Dozenten, Lehrbeauftragte und Professoren müssen uns die kritische Frage stellen lassen, wo wir gewesen sind, als das Bologna-System eingeführt wurde – warum da nicht mehr Widerspruch kam. Dennoch: Die Studenten dürfen nicht in ihrer selbstgewählten Resignation verharren. Dass sie sich angepasst verhalten, entspringt ja nicht einer inneren Überzeugung, sondern dem Gefühl: Ich kann ohnehin nichts ändern.
[b]Ihre Klage über allzu berechnende, allzu ruhige Studenten scheint einer diffusen Sehnsucht nach «mehr Leidenschaft im Hörsaal» geschuldet, die unweigerlich in eine Glorifizierung der 68er und ihrer mitunter zum Palaver neigenden Exponenten mündet.[/b]
Nein. Ich bin 1968 geboren, die Glorifizierung der 68er überlasse ich den Strassenkämpfern von damals. Es geht mir nicht einmal darum, eine politisch engagiertere Studentenschaft zu fordern. Auch in meiner Studentenzeit, ja selbst 1968 engagierte sich nur eine Minderheit. Mir geht es um interessierte Studenten. Ich möchte sie dazu ermutigen, ein Studium als Chance zu sehen, sich mit anregenden Gedanken auseinanderzusetzen und selbstständiges Denken und Urteilskraft zu trainieren.
[b]Haben sich nicht auch Organisation und Infrastruktur der Uni den heutigen Studenten entfremdet? Frontalunterricht, Hörsäle: Das sind Konzepte, die vor Jahrhunderten entwickelt wurden.[/b]
Sicher, da könnte man mehr tun. Aber auch hier gilt: Wenn die Studenten diese Formen nicht mehr für zeitgemäss erachten, sollen sie sich melden und Vorschläge machen, wie die Lehre besser werden könnte. Und das tun sie eben nicht. Zu selten.
[b]Viele geisteswissenschaftliche Fächer leiden unter ihrer Popularität: Überfüllte Vorlesungen und Seminare verhindern eine ordentliche Betreuung und intensive, persönliche Diskussionen. Könnte hier eine strengere Selektion Fächer und Studenten aufwerten?[/b]
Das ist mir zu mechanisch. Es geht doch vielmehr darum, endlich ehrlich und ernsthaft zu fragen, was ein Abiturient respektive Maturand wissen und können muss, was Reife im Wort Hochschulreife bedeutet. Ich frage meine Studenten immer: Was bedeutet Bildung für Sie? Warum studieren Sie? Dann sind sie erst einmal sprachlos, weil ihnen offenbar niemand bisher diese Frage gestellt hat. Bildung ist für sie die Erfüllung diffuser Erwartungen, sie wollen möglichst schnell durch die Uni, ganz egal, ob sie neue Erkenntnisse gewonnen haben oder nicht. Heute wird viel zu sehr über vage Kompetenzen geschwurbelt, statt über konkrete Inhalte geredet. Die Ansprüche sinken, die Anzahl der Abiturienten steigt – was ja auch politisch gewollt ist. Und so wird die Stunde der Wahrheit im Lebenslauf nach hinten geschoben.
[b]Was meinen Sie damit?[/b]
Es gibt in Deutschland eine Inflation der guten und sehr guten Noten, sowohl beim Abitur als auch beim Hochschulabschluss. Viele, die heute die Universität mit einem guten Abschluss verlassen, wären früher schon im Gymnasium oder an der Universität gescheitert. Heute scheitern sie im Beruf. Absolventen präsentieren ihrem Arbeitgeber einen tollen Lebenslauf, ihr Chef ist dann aber im Alltag richtiggehend schockiert, wie bescheiden die praktischen Fähigkeiten tatsächlich sind, wie unselbstständig junge Akademiker sich verhalten und wie wenig Verantwortungsbereitschaft sie zeigen. Solche Klagen höre ich in letzter Zeit aus den HR-Abteilungen grosser Firmen. In der Folge werden Vorstellungsgespräche und Probetage gegenüber Noten höher gewichtet. Das heisst, die Noten, die wir verteilen, gelten nicht als besonders glaubwürdig. Man muss aber auch sagen, dass die Arbeitgeber, die sich jetzt beschweren, vor einigen Jahren genau diesen Bachelor gefordert haben.
[b]Haben Sie manchmal das Gefühl, Ihre Studenten gar nicht mehr zu erreichen?[/b]
Im Gegenteil: Mein Buch spricht sehr viele Studenten an. Das Echo ist gewaltig, in positiver wie in negativer Hinsicht. Viele Studenten haben mir zugestimmt – nicht zufällig solche, die sich bereits heute engagieren. Noch mehr reagierten jedoch sehr getroffen, sehr pikiert. Manche fordern mich auf, ein nächstes Buch zu schreiben mit dem Titel: Warum unsere Journalisten so angepasst sind.
Quelle: Tagesanzeiger Zürich