Diese Debatte wird seit über dreißig Jahren geführt, ich selber habe während meines Studiums an einem colloquium zum Thema "Strafen und Willensfreiheit" teilgenommen und mich davor und danach gerne mit diesem Thema befasst.
Ich möchte auf folgenden Teil des Artikels eingehen:
Doch kann man unter diesen Umständen einen Täter bestrafen, dessen Gewaltbereitschaft etwa durch einen angeborenen niedrigen Gehalt des Hirnenzyms MAO-A erhöht ist? Und der noch dazu von Kindesbeinen an mit Gewalt und schlechter Behandlung konfrontiert wurde, die sich in sein Gehirn „eingebrannt“ haben? Muss man nicht darüber hinaus grundsätzlich bezweifeln, dass je ein Mensch sich für ein Verbrechen „frei“ entschieden hat und deshalb Strafe „verdient“?
Die Alternative wäre, das ganze nicht mehr Strafe zu nennen und zwangsweise Therapien durchzuführen, wenn man annimmt, es handele sich um determiniertes Verhalten. Dann kann und muss man aber eigentlich danach unterscheiden, wie wahrscheinlich eine erneute Begehung ist. Folglich müsste eine solche Rechtslehre den notorischen Dieb länger aus dem Verkehr ziehen (und damit faktisch härter bestrafen) als den Mörder, dessen Mord durch Umstände hervorgerufen wurden, die so nie wieder eintreten werden. Hier könnte sich die Rechtsgemeinschaft tatsächlich jede Reaktion schenken.
Nun muss Recht aber auch irgendwo der Vorstellung von Gerechtigkeit entsprechen, damit es in der Gesellschaft Wurzeln schlägt. Wie groß ist wohl die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Recht durch die Rechtsgemeinschaft akzeptiert würde.
Ein Rechtssystem, dass sich auf diese "Grundlagen" stützt, Determinismus annimmt, müsste wie in Minority Report bereits vor der Tat handeln....
Ferner ist anzumerken, dass auch Menschen mit dem beschriebenen Defizit und unter ähnlichen Umständen groß geworden, nicht zwangsläufig zu Gewalttätern werden müssen. Es besteht nur ein erhöhtes Risiko!
Auch muss man wissen, dass das menschliche Gehirn bis zum Tode kein endgültiges Stadium erreicht, sondern sich permanent verändert. Auch deshalb stimmt der Spruch nicht "Der Vater säuft, die Mutter hurt, das wird bestimmt ne Missgeburt!".
Das Strafrecht verteidige nicht Güter, sondern handfeste Interessen der Gesellschaft, setzte Merkel dagegen. „Die Strafe ist eine symbolische Reparatur der gebrochenen Norm.“ Trotzdem bleibe ein ungutes Gefühl, weil zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit heute auch die Annahme gehöre, der Täter hätte im konkreten Fall auch anders handeln können. „Hier gibt es einen ‚peinlichen Rest’, um mit Goethe zu sprechen“, sagte Merkel.
Das ist der nächste Punkt. Es kommt im Strafrecht letztlich nicht wirklich darauf an, ob der Mensch in einem naturwissenschaftlichen Sinne frei ist.
Unsere Gesellschaft beruht jedenfalls auf einem Freiheit umfassenden Verständnis von Verantwortlichkeit. Danach können wir unterscheiden, ob jemand aus Ungeschick eine Delle in der Autotür verursacht (Stolpern) oder absichtlich (Treten). Es besteht wohl Übereinstimmung, dass jedenfalls der Ausgleich der Interessen des Täters und der Interessen des Opfers nicht bei Stolpern und Treten zu demselben Ergebnis kommen sollten. Wer stolpert, sollte nicht strafrechtlich angegangen werden, wer mit aller Gewalt gegen die Tür tritt dagegen schon. Wenn aber beide Bewegungen determiniert sind, entfällt die Grundlage für eine entsprechende Unterscheidung.
Ebenso bei der Unterscheidung zwischen Menschen mit und ohne Bewusstseinsstörungen.
Damit das Recht seine Funktion als sog. social engineering erfüllen kann, wird das Recht wohl gar nicht ohne einen Willen zur Entscheidung auskommen können.
Ferner möchte ich hierzu Stellung beziehen:
Das Unbehagen entstammt nicht zuletzt den Erkenntnissen, die wir der modernen Bildgebung verdanken. „Wenn wir die Aktivitätsmuster des Stirnhirns kennen, die für eine bestimmte Art von Entscheidung typisch sind, können wir sie voraussagen, und zwar einige Sekunden bevor die Person selbst darüber Bescheid weiß“, berichtete John Dylan Haynes vom Bernstein Center for Computional Neuroscience in Berlin.
Hieraus erkennen wir was? Dass der Wille offensichtlich nicht im Bewusstsein verankert ist. Was hilft uns das? Es hilft uns zunächst einmal, das Phänomen Bewusstsein zu beschreiben. Was aber Bewusstsein ist, wissen wir bis heute nicht sicher. Es gibt noch keine abschließende, allgemein anerkannte Definition.
http://de.wikipedia.org/wiki/Bewusstsein
Wie dieser Wille aber nun beschaffen ist, darüber sagen diese Experimente gar nichts aus. Dass er nicht im Bewusstsein verankert ist, lässt keinen Schluss zu, ob er frei ist oder nicht. Aus eigener Beobachtung kann ich auch sicher sagen, dass es vorkommen kann, dass der Impuls für eine Bewegung auf dem Weg ist, während im Kopf sogar bereits ins Bewusstsein gelangt der Alarm ertönt. Die Bewegung kann nicht mehr unterbrochen werden, aber man ist sich dennoch bereits bewußt, falsch zu handeln.
Andererseits habe ich schon, angeregt von dem Begriff "logique du coeur" darüber nachgedacht, ob wir wirklich zumeist rational nach den besseren Gründen und nach reiflicher Überlegung unsere Entscheidungen treffen. An dieser Stelle möchte ich meinem Philosophielehrer, Herrn Schneemann, herzlich für die zahlreichen Anregungen danken.
Jedenfalls kam ich bereits vor mehr als zehn Jahren für mich zu dem Ergebnis, dass wir zumindest vor allem das tun, was wir für gut und richtig empfinden, dass wir also zumeist intuitiv handeln, unserem Bauchgefühl folgen. Ich nannte das damals "affektiver Wille".
Aber es gibt auch andere Beispiele dafür, dass der Wille viel komplexer ausfallen kann. So ist das Bewusstsein sehr stark eingebunden, während wir bestimmte Handlungen erlernen, während einmal erlernte Handlungen später oftmals ins Unterbewusstsein abgeschoben und auch dort zuverlässig durchgeführt werden, obschon nach wie vor Entscheidungen notwendig sind. Man kann z.B. gleichzeitig Autofahren und dabei erlernte Inhalte so intensiv repetieren, dass man letztere Beschäftigung sehr bewusst erlebt, von der Fahrt hingegen praktisch nichts mitbekommt.
Es ist meiner Meinung nach sogar vorstellbar, dass der Mensch mehr als "einen" Willen hat.
Bisher gilt das allerdings nur für einfache Teilentscheidungen, und noch nicht einmal da ist die Prognose sicher. Beunruhigend ist aber, dass durch Stimulation bestimmter Hirnregionen in Versuchspersonen Absichten erzeugt werden können, die sie anschließend für ihre eigenen halten. Ist das, was sich daraus ergibt, noch ihre Handlung?
Diese Ergebnisse sind in der Tat beunruhigend, aber ich kenne die Tests und sie erreichten keinen absoluten Erfolg. Bei immerhin über 20% wurde nicht das gewünschte Ergebnis erzielt. Leider hat aber keine der Untersuchungen versucht, zu welchen Ergebnissen man käme, wenn die Person versuchen sollte, bestimmte Absichten zu unterdrücken. DAS würde tiefere Einblicke erlauben.
p.s.
Ich persönlich würde Bewusstsein stark vereinfachend als kognitive Wahrnehmung bezeichnen.
Diese Debatte wird seit über dreißig Jahren geführt, ich selber habe während meines Studiums an einem colloquium zum Thema "Strafen und Willensfreiheit" teilgenommen und mich davor und danach gerne mit diesem Thema befasst.
Ich möchte auf folgenden Teil des Artikels eingehen:
[quote]Doch kann man unter diesen Umständen einen Täter bestrafen, dessen Gewaltbereitschaft etwa durch einen angeborenen niedrigen Gehalt des Hirnenzyms MAO-A erhöht ist? Und der noch dazu von Kindesbeinen an mit Gewalt und schlechter Behandlung konfrontiert wurde, die sich in sein Gehirn „eingebrannt“ haben? Muss man nicht darüber hinaus grundsätzlich bezweifeln, dass je ein Mensch sich für ein Verbrechen „frei“ entschieden hat und deshalb Strafe „verdient“? [/quote]
Die Alternative wäre, das ganze nicht mehr Strafe zu nennen und zwangsweise Therapien durchzuführen, wenn man annimmt, es handele sich um determiniertes Verhalten. Dann kann und muss man aber eigentlich danach unterscheiden, wie wahrscheinlich eine erneute Begehung ist. Folglich müsste eine solche Rechtslehre den notorischen Dieb länger aus dem Verkehr ziehen (und damit faktisch härter bestrafen) als den Mörder, dessen Mord durch Umstände hervorgerufen wurden, die so nie wieder eintreten werden. Hier könnte sich die Rechtsgemeinschaft tatsächlich jede Reaktion schenken.
Nun muss Recht aber auch irgendwo der Vorstellung von Gerechtigkeit entsprechen, damit es in der Gesellschaft Wurzeln schlägt. Wie groß ist wohl die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Recht durch die Rechtsgemeinschaft akzeptiert würde.
Ein Rechtssystem, dass sich auf diese "Grundlagen" stützt, Determinismus annimmt, müsste wie in Minority Report bereits vor der Tat handeln....
Ferner ist anzumerken, dass auch Menschen mit dem beschriebenen Defizit und unter ähnlichen Umständen groß geworden, nicht zwangsläufig zu Gewalttätern werden müssen. Es besteht nur ein erhöhtes Risiko!
Auch muss man wissen, dass das menschliche Gehirn bis zum Tode kein endgültiges Stadium erreicht, sondern sich permanent verändert. Auch deshalb stimmt der Spruch nicht "Der Vater säuft, die Mutter hurt, das wird bestimmt ne Missgeburt!".
[quote]
Das Strafrecht verteidige nicht Güter, sondern handfeste Interessen der Gesellschaft, setzte Merkel dagegen. „Die Strafe ist eine symbolische Reparatur der gebrochenen Norm.“ Trotzdem bleibe ein ungutes Gefühl, weil zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit heute auch die Annahme gehöre, der Täter hätte im konkreten Fall auch anders handeln können. „Hier gibt es einen ‚peinlichen Rest’, um mit Goethe zu sprechen“, sagte Merkel.[/quote]
Das ist der nächste Punkt. Es kommt im Strafrecht letztlich nicht wirklich darauf an, ob der Mensch in einem naturwissenschaftlichen Sinne frei ist.
Unsere Gesellschaft beruht jedenfalls auf einem Freiheit umfassenden Verständnis von Verantwortlichkeit. Danach können wir unterscheiden, ob jemand aus Ungeschick eine Delle in der Autotür verursacht (Stolpern) oder absichtlich (Treten). Es besteht wohl Übereinstimmung, dass jedenfalls der Ausgleich der Interessen des Täters und der Interessen des Opfers nicht bei Stolpern und Treten zu demselben Ergebnis kommen sollten. Wer stolpert, sollte nicht strafrechtlich angegangen werden, wer mit aller Gewalt gegen die Tür tritt dagegen schon. Wenn aber beide Bewegungen determiniert sind, entfällt die Grundlage für eine entsprechende Unterscheidung.
Ebenso bei der Unterscheidung zwischen Menschen mit und ohne Bewusstseinsstörungen.
Damit das Recht seine Funktion als sog. social engineering erfüllen kann, wird das Recht wohl gar nicht ohne einen Willen zur Entscheidung auskommen können.
Ferner möchte ich hierzu Stellung beziehen:
[quote]Das Unbehagen entstammt nicht zuletzt den Erkenntnissen, die wir der modernen Bildgebung verdanken. „Wenn wir die Aktivitätsmuster des Stirnhirns kennen, die für eine bestimmte Art von Entscheidung typisch sind, können wir sie voraussagen, und zwar einige Sekunden bevor die Person selbst darüber Bescheid weiß“, berichtete John Dylan Haynes vom Bernstein Center for Computional Neuroscience in Berlin.[/quote]
Hieraus erkennen wir was? Dass der Wille offensichtlich nicht im Bewusstsein verankert ist. Was hilft uns das? Es hilft uns zunächst einmal, das Phänomen Bewusstsein zu beschreiben. Was aber Bewusstsein ist, wissen wir bis heute nicht sicher. Es gibt noch keine abschließende, allgemein anerkannte Definition.
http://de.wikipedia.org/wiki/Bewusstsein
Wie dieser Wille aber nun beschaffen ist, darüber sagen diese Experimente gar nichts aus. Dass er nicht im Bewusstsein verankert ist, lässt keinen Schluss zu, ob er frei ist oder nicht. Aus eigener Beobachtung kann ich auch sicher sagen, dass es vorkommen kann, dass der Impuls für eine Bewegung auf dem Weg ist, während im Kopf sogar bereits ins Bewusstsein gelangt der Alarm ertönt. Die Bewegung kann nicht mehr unterbrochen werden, aber man ist sich dennoch bereits bewußt, falsch zu handeln.
Andererseits habe ich schon, angeregt von dem Begriff "logique du coeur" darüber nachgedacht, ob wir wirklich zumeist rational nach den besseren Gründen und nach reiflicher Überlegung unsere Entscheidungen treffen. An dieser Stelle möchte ich meinem Philosophielehrer, Herrn Schneemann, herzlich für die zahlreichen Anregungen danken.
Jedenfalls kam ich bereits vor mehr als zehn Jahren für mich zu dem Ergebnis, dass wir zumindest vor allem das tun, was wir für gut und richtig empfinden, dass wir also zumeist intuitiv handeln, unserem Bauchgefühl folgen. Ich nannte das damals "affektiver Wille".
Aber es gibt auch andere Beispiele dafür, dass der Wille viel komplexer ausfallen kann. So ist das Bewusstsein sehr stark eingebunden, während wir bestimmte Handlungen erlernen, während einmal erlernte Handlungen später oftmals ins Unterbewusstsein abgeschoben und auch dort zuverlässig durchgeführt werden, obschon nach wie vor Entscheidungen notwendig sind. Man kann z.B. gleichzeitig Autofahren und dabei erlernte Inhalte so intensiv repetieren, dass man letztere Beschäftigung sehr bewusst erlebt, von der Fahrt hingegen praktisch nichts mitbekommt.
Es ist meiner Meinung nach sogar vorstellbar, dass der Mensch mehr als "einen" Willen hat.
[quote]Bisher gilt das allerdings nur für einfache Teilentscheidungen, und noch nicht einmal da ist die Prognose sicher. Beunruhigend ist aber, dass durch Stimulation bestimmter Hirnregionen in Versuchspersonen Absichten erzeugt werden können, die sie anschließend für ihre eigenen halten. Ist das, was sich daraus ergibt, noch ihre Handlung?[/quote]
Diese Ergebnisse sind in der Tat beunruhigend, aber ich kenne die Tests und sie erreichten keinen absoluten Erfolg. Bei immerhin über 20% wurde nicht das gewünschte Ergebnis erzielt. Leider hat aber keine der Untersuchungen versucht, zu welchen Ergebnissen man käme, wenn die Person versuchen sollte, bestimmte Absichten zu unterdrücken. DAS würde tiefere Einblicke erlauben.
p.s.
Ich persönlich würde Bewusstsein stark vereinfachend als kognitive Wahrnehmung bezeichnen.